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40 Stunden

40 Stunden

Titel: 40 Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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Seine eigentlich schwarzen Haare hatten einen Grauschimmer, sodass er aussah wie ein alter, gebeugter Mann. Und genauso fühlte er sich auch. Er ließ das Wasser laufen und hielt die Hände in den kalten Strahl. Plötzlich rollte eine Welle von Erinnerungen über ihn hinweg. Er hörte ein Kind weinen. Vergangene Szenen standen wieder klar vor seinem inneren Auge– nicht so dumpf und bedrohlich wie des Nachts in seinen Albträumen, sondern grell und schmerzhaft wie eine frische Wunde. Er sah einen Finger mit rot lackiertem Nagel, wusste aber nicht, ob er der Toten aus dem Museum oder der Frau im roten Kleid gehörte. Dann sah er eine U-Bahn, die in dem dunklen Schlund eines Tunnels verschwand. Feuer fauchte heran und hüllte ihn ein. Er roch verbranntes Fleisch. Sein eigenes Fleisch. Stimmen und Schreie hallten durch seinen Kopf, er hörte das Mädchen wieder und wieder Papa schluchzen, hörte die schrillen anklagenden Worte der Frau.
    Was haben Sie getan?
    Schwerfällig schöpfte er sich Wasser ins Gesicht und strich mit den nassen Händen die Haare nach hinten. Staub und Betonbröckchen rieselten herab und landeten mit leisem Klicken im Waschbecken. An seinem Unterarm vorbei fiel sein Blick auf den dunkelblauen Teppich. Von der Tür bis zu seinem Platz und von dort aus hierher zog sich eine Spur aus hellgrauen Fußabdrücken. Seinen Fußabdrücken.
    Er schüttelte den Kopf. » Was haben Sie getan?«, murmelte er.
    Paul, der zu spüren schien, dass Faris ein wenig Zeit brauchte, um sich zu fassen, hatte sich darangemacht, die Kaffeemaschine in Gang zu setzen. Jetzt drehte er sich um. » Wie bitte?«
    Faris erkannte, dass er die Worte laut vor sich hergesagt haben musste. Er richtete sich auf. » Was haben Sie getan?«, wiederholte er. » Das hat mich eine Frau am Tatort gefragt. Die Leute hielten mich für den Bombenleger.« Er bewegte die Schulter, spürte dem Schmerz nach: nur eine Prellung. Das Bild des Verletzten mit der Bauchwunde verfolgte ihn, das entsetzte, fassungslose Gesicht der Tochter… Er schloss die Augen und sog so viel Luft in seine Lungen, wie er nur konnte.
    Die alte Wunde an seinem Brustkorb ziepte, und er musste husten. Wie aus weiter Ferne hörte er, wie die Tür geöffnet wurde, und als er die Augen wieder aufschlug und sich umwandte, stand ein junger Mann im Raum, den er nicht kannte. Er trug Zivil, war schlank und zu braungebrannt. Seine Beine steckten in teuren Markenjeans, und sein Pullover hatte ein dezentes Logo auf der linken Brustseite.
    Paul nickte ihm zu. » Faris, das ist Marc Sommer.«
    Faris wusste, dass Marc neu in der SERV war. Er hatte Psychologie studiert und galt unter all den Fallanalytikern, die ihre Polizeiausbildung in den letzten drei Jahren beendet hatten, als einer der besten. Faris wusste aber auch, dass Paul hoffte, Faris würde bald ins Team zurückkehren, und dass es aus diesem Grund immer wieder zu Spannungen zwischen ihm und Marc kam.
    Er lächelte Marc an.
    Der wirkte erleichtert. Er hatte sehr helle, fast wasserfarbene Augen. » Hallo, Faris«, grüßte er und streckte die Hand aus. » Schön, dich mal kennenzulernen.« Sein Blick huschte zu dem Schreibtisch mit der schwarzen Tasse und dem Plexiglaswürfel. Beides passte so gut zu seinem Erscheinungsbild, dass Faris sofort klar war, wer seinen Schreibtisch bekommen hatte. Er biss die Zähne zusammen und schaute auf seine nassen Hände. Dann drehte er den Wasserhahn zu, griff nach einem Papierhandtuch und trocknete sich ab, bevor er einschlug. » Hallo, Marc.« Er wandte sich wieder an Paul. » Sie haben gesehen, dass ich wie ein Araber aussehe. Und das hat ihnen gereicht, um ihre Schlüsse zu ziehen.« Seine Gedanken wanderten zu dem Museumsbomber, und einen Augenblick lang stand er regungslos da, während sein Hirn die verschiedenen Möglichkeiten durchspielte.
    Konnte der Anrufer tatsächlich der Kerl von damals sein? Konnte er die verheerende Explosion wirklich überlebt haben?
    Faris seufzte. Im Spiegel sah er, dass seine Haare noch immer grau waren. Seine Bemühungen, sie zu säubern, hatten nur dazu geführt, dass die einzelnen Strähnen jetzt wie feuchte Speerspitzen in alle Himmelsrichtungen abstanden. Er strich sie glatt, kehrte zum Schreibtisch zurück und ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Wenn es Marc störte, dass er seinen Platz einnahm, ließ der junge Kollege es sich nicht anmerken.
    » Du denkst tatsächlich an den Museumsbomber, oder?«, fragte Paul vorsichtig.
    Faris antwortete nicht.

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