42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
er.
„Das dachte ich mir!“ meinte Sternau. „Wenn ein fallender Mensch mit seinem Hemd an einem Dorn hängenbleibt, wird das Hemd zerschlitzt oder es reißt ein unregelmäßiges und vielfach zerfetztes Stück ab; das Stück aber, welches du gefunden hast, hat eine so glatte und saubere Rißkante, daß ich sicher glaube, du hast es selbst abgerissen. Man braucht nicht sehr klug zu sein, um zu sehen, was mit der Hand oder was durch einen dornigen Strauch zerrissen wurde.“
„Das ist wahr!“ bemerkte der Alkalde.
„Ich erkläre also“, fuhr Sternau fort, „daß wir es nicht mit der Leiche des Grafen de Rodriganda zu tun haben, daß vielmehr das Verbrechen einer betrügerischen Verwechslung vorliegt. Ich bitte, alle meine Aussagen zu Protokoll zu nehmen, verlange, daß die Spuren, die ich Euch zeigte, unversehrt erhalten bleiben, und hoffe, daß die Leiche bleibt, wo sie liegt, bis der Corregidor kommt, um diese Angelegenheit genauer zu untersuchen.“
„Das soll geschehen, Señor“, sagte der Alkalde.
„Ihr werdet die Schlucht mit der Leiche bewachen lassen?“
„Ja.“
„Und diesen Gitano, der mir sehr verdächtig vorkommt, gefangennehmen?“
„Wenn Ihr es wünscht, ja.“
Da trat Graf Alfonzo vor, um Einspruch zu erheben. Auf dem Weg nach der Schlucht hatte der Advokat ihm mitgeteilt, daß der Zigeuner in seinen Diensten stehe, und nun befürchtete er, daß dieser, wenn er gefangengenommen werde, das ganze Komplott verraten werde.
„Halt, ich dulde das nicht!“ sagte er. „Wollt Ihr Euch nach den Wünschen dieses Fremden richten, Alkalde? Wißt Ihr, wer nach dem Tod meines Vaters hier Amts- und Gerichtsherr ist?“
Sternau zuckte die Achsel und sagte:
„Nach dem Tod des Grafen? Beweist erst, daß Don Emanuel tot ist!“
„Pah, da unten liegt er!“ rief Alfonzo.
„Es soll eben erst erwiesen werden, daß er es ist.“
„Ich rekognosziere ihn. Señor. Verstanden!“ rief Alfonzo drohend.
Sternau zuckte abermals die Achsel und meinte stolz:
„Es ist jeder andere geschickter dazu, die Leiche des Grafen zu rekognoszieren. Wie lange kennt Ihr ihn? Einige Tage?“
Da trat Alfonzo hart an den Deutschen heran, legte ihm die Hand auf die Schulter und fuhr ihn drohend an:
„Señor, was wagt Ihr? Soll ich Euch zermalmen! Wer soll den Grafen kennen, wenn nicht ich, sein Sohn!“
Sternau schüttelte die Hand von sich ab und antwortete mit kalter, unerschütterlicher Ruhe:
„Ihr habt es erst zu beweisen, daß Ihr der Sohn des Grafen seid. Der echte Graf Alfonzo ist mit dem Kapitän Landola in See gegangen. Man hat ihn gewaltsam entführt.“
Er sprach hier nur seine Vermutung aus, aber seine Worte machten einen gewaltigen Eindruck.
„Ah! Hört!“ rief es im Kreis.
Der Advokat taumelte förmlich zurück; Alfonzo aber sprang auf Sternau zu, um ihn zu packen.
„Schurke!“ rief er. „Verleumder, ich erwürge dich!“
Sternau richtete sich zu seiner vollen Höhe empor, faßte den Grafen bei den Hüften, trat mit ihm bis an die äußerste Kante des Abgrundes heran und hielt ihn über die gähnende Tiefe hinaus. Ein Schrei des Schreckens erscholl rundum.
„Du mich erwürgen, Knabe!“ sagte er. „Soll ich dich hinunterschmettern zu dem Popanz eurer Betrügereien? Nein, es ist keine Ehre, einen so unwürdigen Burschen zu besiegen und zu töten. Du magst im Schlamm deiner eigenen Armseligkeit ersticken. Fahre hin, Fliege!“
Er trat von dem Abgrund zurück und schleuderte Alfonzo über sich selbst hinweg, so daß er weit fortflog und dann zur Erde stürzte. Dann wandte er sich an den Alkalden:
„Ich hoffe, daß Ihr Eure Pflicht tut, Señor. Das Gegenteil könnte Euch gefährlich werden. Kommt, Señor Castellano! Ich habe hier meine Pflicht getan, und Ihr könnt mich begleiten.“
Er ging mit Alimpo fort, ohne daß ihn jemand gehindert hätte.
Alfonzo erhob sich vom Boden. Er schäumte vor Wut, getraute sich aber nicht, diese an dem eisenstarken Deutschen auszulassen. Er war blamiert vor den vielen Leuten, die ihn als Herrn und Gebieter betrachten sollten. Er wandte sich, vor Grimm zitternd, an den Alkalden, den er förmlich anbrüllte:
„Señor, an diesem Attentat seid nur Ihr allein schuld. Ich werde es Euch gedenken. Darauf verlaßt Euch!“
„Ich habe nur meine Pflicht getan!“ entschuldigte sich der Beamte.
Es war ein gewöhnlicher Dorfbewohner, ein Untertan des Grafen. Er hatte nach dem Recht gehandelt, weil er unter dem Einfluß der körperlich und geistig
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