42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
waren, und einem Blick, der sie begleitete, ersah der Notar, daß die Tropfen in den Tee gekommen seien.
Als der Schuß fiel, saß Rosa mit der Kastellanin im Gespräch beisammen. Die letztere hatte soeben den Tee aus der Küche geholt und der Gräfin serviert. Da erscholl über ihnen ein lauter Krach.
„Was war das?“ rief Elvira.
„Ein Schuß!“ antwortete Rosa. „Was ist vorgefallen? Ich werde gehen, nachzusehen.“
„O nein, nein, meine teure Contezza! Bleiben Sie. Es gibt hier täglich immer neues und größeres Unglück; ich lasse Sie nicht fort!“
„Aber wer soll mir etwas tun? Der Schuß fiel, wie es scheint, in der Wohnung Cortejos. Hörst du die Schritte und die Stimmen?“
„Ja, aber wir bleiben. Mein Alimpo ist sehr ruhig; er wird hingehen, um zu sehen, was es ist, und es uns dann melden.“
Diese Voraussage erwies sich als richtig, denn der Kastellan kam wirklich bald und meldete, daß der Notar von einem Räuber überfallen worden sei, diesen aber erschossen habe. Dieser Gegenstand bildete das Objekt des abendlichen Gespräches, aber nachdem Rosa ihren Tee getrunken hatte, erklärte sie, schlafen gehen zu wollen, da sie von all der Aufregung heute ein schmerzliches Brennen im Kopf fühle. Sie legte sich zur Ruhe.
Am andern Morgen kam das Kammermädchen der Contezza in höchster Aufregung zu der Kastellanin gerannt und bat sie weinend:
„Meine gute Frau Elvira, kommen Sie doch schnell mit zur Contezza. Es ist etwas mit ihr!“
„Was denn?“
„Sie muß krank sein.“
„Heilige Madonna, ist es wahr? Sie klagte bereits gestern Abend über Kopfschmerz. Ich komme!“
Sie ließ alles liegen und folgte der Zofe. Als sie in Rosas Schlafzimmer traten, kniete dieselbe vor dem Bett und schien zu beten. Sie hatte ein wachsbleiches Aussehen und sah wie eine Statue aus.
„Liebe Contezza, stehen Sie doch auf!“ bat das Mädchen.
Rosa bewegte sich nicht.
„Sehen Sie“, klagte das Mädchen, „so fand ich sie, als ich kam, um sie zu wecken. Ich hob sie auf und setzte sie auf den Stuhl, aber immer wieder kniet sie nieder. Helfen Sie mir!“
Sie faßten die Gräfin an und zogen sie empor, kaum aber hatten sie dieselbe auf den Diwan gesetzt, so glitt sie wieder herab und faltete die Hände, als ob sie beten wolle.
„Ja, sie ist krank, sie ist sehr krank!“ schluchzte die Kastellanin. „Wenn doch nur Señor Sternau hier wäre! Sie scheint ganz ohne Besinnung und Gefühl zu sein.“
„Was ist zu tun? Was tun wir, Señora Elvira?“ fragte die Zofe, gleichfalls weinend.
„Ja, ich weiß es nicht! Mein Gott, ich kann nichts tun, als meinen Alimpo fragen. Holen Sie ihn!“
Das Mädchen rannte fort und brachte den Kastellan herbei, der ein erschrockenes Aussehen hatte. Die Kranke kniete mit halb geschlossenem Auge und gefalteten Händen vor dem Diwan. Der Kastellan half, sie wieder aufrecht setzen, aber sie sank sogleich wieder in ihre betende Lage zurück. Auch ihm traten die Tränen in die Augen, und als er um Rat gefragt wurde, sagte er:
„Legt sie ins Bett und macht kalte Umschläge; das wird vielleicht helfen.“ Die beiden Frauen folgten seinen Worten, während er sich betrübt entfernte. Draußen traf er die fromme Schwester, welche lauernd in der Nähe verweilt hatte.
„Waren Sie bei der Gräfin?“ fragte sie.
„Ja.“
„So ist sie bereits munter?“
„Sie ist krank“, antwortete er.
„Was fehlt ihr?“
„Ich weiß es nicht.“
„So muß ich sie besuchen, um ihr Gottes Wort zu bringen, den besten Trost der Leidenden.“
Sie ging hinein, kam aber bereits nach einer Minute wieder herausgeschossen und flog förmlich nach der Wohnung des Notars. Als dieser sie in so heftiger Weise eintreten sah, fragte er:
„Nun? Gelungen; ich sehe es dir an!“
„Ja, sie ist verrückt.“
„Was tut sie?“
„Sie betet.“
„Ah, sonderbar! Laut?“
„Nein. Wenn man sie stellt oder setzt oder legt, so bleibt sie nicht in dieser Stellung, sondern sie kniet und faltet die Hände, als wolle sie beten. Dabei aber bewegt sie weder die Lippen noch ein anderes Glied. Es ist sicher, daß ihr kein Rest des Verstandes geblieben ist.“
„Ah, der Wahnsinn ist während des Gebetes über sie gekommen, und nun hat sie nur noch den einen Gedanken des Betens. Ich werde sogleich die nötigen Schritte tun. Komm mit!“
Er ging mit ihr nach Rosas Wohnung und erklärte der Zofe und der Kastellanin, daß die fromme Schwester die Pflege der kranken Gräfin übernehmen werde. Von jetzt an
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