42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
Angst.
„Es muß gehen! Meine Leute dort hören ein jedes Wort, welches gesprochen wird. Ich zähle bis drei. Steht Ihr da noch nicht am Fenster, um den Befehl zu geben, so schießen sie Euch nieder. Wir sind dreißig Mann; es kann uns keiner entkommen. Also – eins – zwei – – – dr – – –“
Er hatte das Wort ‚Drei‘ noch nicht ausgesprochen, so sprang der Corregidor an das Fenster und riß es auf.
„Legt die Gewehre ab!“ rief er hinaus.
Die Gendarmen hörten die Worte und blickten erstaunt herüber.
„Um Gottes willen, legt die Waffen ab!“ wiederholte er. „Legt sie in die Schlitten!“
„Warum?“ rief draußen einer.
„Weil wir hier gefangen sind“, antwortete er. „Das ganze Haus steckt voller Briganten, welche euch niederschießen werden, wenn ihr nicht gehorcht.“
Die Leute schienen diese Versicherung nicht glauben zu wollen; da aber wurde die Haustür von innen aufgestoßen, und wohl zwanzig Räuber quollen hervor, ihnen die geladenen Büchsen entgegenhaltend.
„Ergebt euch! Ergebt euch!“ drängte der angstvolle Corregidor.
„Auf freien Abzug?“ fragte einer vorsichtig.
„Ja.“
Die Gendarmen sahen, daß es nur eines Fingerdruckes der Räuber bedurfte, um zwanzig wohlgezielte Schüsse abzugeben. Sie legten die Waffen ab, übergaben auch die Pferde und schlichen sich von dannen. Auch die vier in der Stube befindlichen taten dasselbe; sie konnten ungehindert gehen. Als sich jedoch auch der Corregidor entfernen wollte, hielt ihn der Räuber zurück.
„Halt, mein Bursche!“ sagte er. „Ich habe noch mit Euch zu reden.“
„Was denn noch?“
„Das werdet Ihr bald hören.“ Und sich an Sternau wendend, fragte er: „Wie es scheint, seid Ihr mit diesem Señor Corregidor nicht zufrieden?“
„Allerdings nicht“, antwortete der Arzt.
„Bloß weil er Euch jetzt fangen wollte? Oder habt Ihr noch etwas anderes gegen ihn?“
„Etwas noch ganz anderes. Er kam einst zu mir, um mich zu einer Dame abzuholen, brachte mich aber statt dessen nach Barcelona in das Gefängnis, wo ich mehrere Monate lang unschuldig eingeschlossen wurde.“
„Ah, das soll er büßen! Das ist Hinterlist. Zählt ihm fünfzig auf die Kehrseite.“
Er wurde trotz seines Wehklagens gepackt und hinausgeschafft. Bald hörte man die kräftigen Hiebe und das laute Geschrei des Beamten, der wohl nicht gedacht hatte, daß er sich anstatt eines Gefangenen fünfzig Stockschläge holen würde; als er den letzten erhalten hatte, hinkte er kläglich von dannen.
Jetzt erst trat der Pater wieder ein.
„Seht Ihr, Señor“, sagte er zu Sternau, „daß ich recht hatte, als ich Euch sagte, daß wir hier oben in den Bergen sicher sein würden.“
„Ihr seid mir ein Rätsel; aber ich danke Euch von ganzem Herzen!“ antwortete der Deutsche.
„Vielleicht werdet Ihr dieses Rätsel noch lösen. Jetzt aber laßt uns aufbrechen, damit wir vor Abend noch über die Grenze kommen.“
Sternau wollte sich den wackeren Briganten dankbar erweisen, sie lehnten jedoch allen Dank und jede Gabe ganz entschieden ab. Sie hatten ja Waffen und Pferde gewonnen.
„Das war Hilfe gerade zur rechten Zeit“, sagte Alimpo beim Einsteigen. „Nicht wahr, meine Elvira?“
„Ja“, antwortete sie. „Glaubst du, daß der Corregidor in Manresa erzählt, daß er heute fünfzig Hiebe bekommen hat?“
„Nein. Ich werde es aber unserem Neffen schreiben; der soll es weitererzählen, meine liebe Elvira.“
Da sich die Pferde nun so ziemlich ausgeruht hatten, ging es mit frischen Kräften und erneuter Schnelligkeit vorwärts. Als Sternau den Briganten noch einen Abschied zurückwinkte, dachte er nicht, daß er nach Jahren sie abermals an derselben Stelle hier treffen werde. – – –
Lieber Leser, hast du vielleicht Jeffrouw Mietje gekannt?
Nein.
Auch Mistress Wallot nicht, die stets nur Mutter Dry genannt wurde?
Nein.
Das ist jammerschade! Denn Jeffrouw Mietje war die beste Frau von ganz Amsterdam und Holland, und Mutter Dry war die couragierteste Amerikanerin, welche jemals ihren Fuß auf eine fremde Insel gesetzt hat. Und das letztere war folgendermaßen gekommen:
Als Mistress Wallot noch eine Miß war und also unverheiratet, da sehnte sie sich vergebens nach einem Mann, denn sie war ein Weib, über Manneslänge emporgeschossen und dabei so dünn, daß man hätte glauben sollen, ihr Vater sei ein Flaggenstock und ihre Mutter eine Angelrute gewesen. Dazu hatte sie das Gesicht voller Pockennarben, und da ihr
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