42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
dieses ganze Rodriganda in die Luft!“
Der derbe Alte wischte sich die Tränen aus dem Bart, sie flossen aber immer wieder nach.
„Nun, laßt uns jetzt beginnen!“ sagte Sternau.
Dies waren einfache Worte, aber sie brachten eine große Wirkung hervor. Frau Sternau und Helene eilten weinend auf die Kranke zu und schlossen sie in die Arme; der Oberförster schluchzte nun doppelt laut und zum Erbarmen. Alimpo faßte seine Elvira bei der Hand, indem sie beide um die Wette weinten, und sogar der Anwalt nahm sein Taschentuch zur Hand.
Nur Sternau blieb scheinbar ruhig. Er mußte eine fast übermenschliche Selbstbeherrschung besitzen, denn als er jetzt einen Porzellanlöffel mit Wasser füllte, zitterten seine Hände nicht um die Breite des hundertsten Teiles eines Haares. Nachdem er aus der Phiole zwei Tropfen hinzugegossen hatte, zeigte er den Löffel herum. Das Wasser war vollständig farb- und geruchlos geblieben.
„Haltet sie!“ bat er.
Seine Mutter und Schwester knieten zu beiden Seiten der Kranken nieder und richteten ihr den Kopf empor. Sternau näherte den Löffel dem Mund der Kranken, zog ihn aber plötzlich zurück und verhüllte mit der freien Hand sein Angesicht. Ein einziges kurzes, aber fürchterliches Schluchzen erschütterte seinen mächtigen Körper wie ein Erdbeben; es war ein Laut, so tief stöhnend, so gewaltig, daß die anderen augenblicklich in ein erneutes Weinen ausbrachen. Der gewaltsam zurückgehaltene und nun mit einem einzigen, desto kräftigeren Stoß hervorbrechende Schmerz dieses starken Mannes erschütterte die Herzen mehr als alle vorhergehenden Tränen und Klagen.
„Herr, Gott“, rief er, „es wird mir fast zuviel! Gib mir Kraft, Kraft, Kraft!“
Dieser Ruf war ein Gebet, wie es inbrünstiger nicht zum Himmel geschickt werden konnte, und Gott schien Erbarmen zu haben, denn der gewaltige Mann raffte sich zusammen und trat zum zweiten Mal näher. Kaum berührte der Löffel die Lippen der Kranken, so öffnete sie mechanisch den Mund, nahm die verhängnisvolle Flüssigkeit bis auf den letzten Tropfen und verschluckte sie. Sternau trat zurück; ein tiefer, mächtiger Seufzer hob seine Brust; er legte den Löffel auf den Tisch und faltete die Hände.
„Vater im Himmel, entweder gib Gelingen oder laß mich sterben!“
„Mein Sohn, mein guter, lieber Sohn!“ schluchzte seine Mutter, indem sie die Arme um ihn legte. „Der Allmächtige wird Erbarmen haben. Vertrauen wir auf seine Güte!“
„Wer da ruhig bleiben kann, der ist der größte Hundsfott, den die Erde trägt!“ sagte der Oberförster. „Ich habe gar nicht geglaubt, daß ich eine so weichherzige Seele bin.“
„In welcher Weise wird die Medizin jetzt wirken?“ fragte der Staatsanwalt.
„Es wird sich schon in kurzer Zeit zeigen, ob sie überhaupt wirkt“, antwortete Sternau. „In zehn Minuten muß sie einschlafen. Dieser Schlaf wird sehr lange, vielleicht achtundvierzig Stunden, dauern, und während dieser Zeit hat das Wichtigste zu geschehen. Der Schlaf darf in keiner Weise unterbrochen werden. Erwacht sie vor der Zeit, so war die Gabe zu schwach und ich habe nachzugeben. Tritt Aufregung, Unruhe oder gar Fieber ein, so war die Gabe zu stark, und die Kranke wird sterben, wenn ich nicht sofort Gegenvorkehrungen treffe. Es ist überhaupt nicht abzusehen, welche Umstände eintreten können, und ich darf keine Minute lang ihr Lager verlassen. Ich muß bitten, Herr Hauptmann, Tag und Nacht ein gesatteltes Pferd bereitzuhalten, damit ich an jedem Augenblick einen Boten zur Stadt habe, wenn ich eine unvorhergesehene Medizin brauche.“
„Sie brauchen nur zu befehlen, Cousin, so lasse ich alle Pferde satteln und totreiten“, antwortete der Oberförster. „Ein solches Opfer ist gering gegen das, was hier auf dem Spiel steht.“
Die Anwesenden warteten zehn bange Minuten lang. Die angstvolle Spannung war wirklich nervenzerstörend. Die Kranke kniete noch immer in ihrer betenden Stellung vor dem Sofa. Da senkte sie langsam das Haupt; ihre Lippen bewegten sich nicht mehr ohne Unterlaß, sondern in einzelnen, immer länger werdenden Pausen; endlich schlossen sich die Augen, und die vorher aufrecht kniende Gestalt sank haltlos in sich zusammen.
„Gott sei Dank!“ betete es rund im Kreis.
„Halb gewonnen!“ jubelte Sternau. „Mutter, legt ihr ein Negligé an und tragt sie nach dem Bett. Wir gehen, aber in fünf Minuten bin ich wieder da, um meine Wache anzutreten.“
Die Herren entfernten sich. Alimpo ging
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