42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
gewesen ist! Wir haben es hier mit einer groß angelegten Menschenseele zu tun, und nur die Erziehung hat es in der Hand, was aus ihr wird, ein großer Verbrecher oder eine im Guten gewaltig hervorragende Existenz. Nehmen Sie die Verantwortung dafür nicht leicht, so werden Sie einmal Freude erleben!“
Der Hauptmann nickte.
„Sie sprechen ganz dieselben Gedanken aus, welche ich selbst schon oft gehabt habe. Ich bin kinderlos und werde mir alle Mühe geben, diesen Baum so wachsen zu lassen, wie es ihm bei seiner ungeheuren Triebkraft zukommt. So hat also unsere Unterhaltung durch diese kleine Episode einen ebenso interessanten Abschluß gefunden. Wir werden uns empfehlen müssen, denn ich sehe es dem Doktor an, daß er sich sehnt, seine ebenso schwere wie folgenreiche Kur zu beginnen.“
„Werden Sie ihr das geheimnisvolle und fürchterliche Mittel heute noch geben?“ fragte der Anwalt den Arzt.
„Ja. Ich darf nicht länger zögern.“
„Ah, ich wünschte wohl, dabeizusein.“
„Sie würden die Wirkung nicht abwarten können.“
„Aber ich würde die Kranke heute sehen und dann später aus ihrem Befinden die Wirkung dieses Speichelgiftes beurteilen können.“
„Wenn Sie Muße genug haben, uns zu begleiten, so würde es mir lieb sein, einen solchen Zeugen später aufweisen zu können.“
„Ja, Herr Anwalt, begleiten Sie uns!“ bat auch der Hauptmann. „Sie wissen, daß Sie mir stets ein hochwillkommener Gast sind.“
„Nun wohl, ich fahre mit!“ sagte dieser. „Vielleicht ist es Ihnen später von Vorteil, wenn ich ein Protokoll aufnehme, in welchem die von Ihnen angegebenen Tatsachen ihre amtliche Bestätigung finden.“
Er gab für seine Abwesenheit dem Gehilfen einige Instruktionen, und dann brachen sie auf. Sie fuhren per Wagen, Kurt aber bestieg sein Pferdchen wieder, um in Gedanken nach Hause zu reiten. Er war sich sehr im unklaren, ob er heute eine Klugheit oder eine große Dummheit begangen habe. Nach reiflicher Überlegung kam er zu der Ansicht, daß das letztere der Fall sei, und nun begann er, sich unendlich zu schämen.
Als er nach Hause kam und von seinem Pferdchen stieg, trat die Mutter aus der Tür.
„Kurt, komm einmal her!“ gebot sie in einem sehr strengen Ton.
Er gehorchte in gedrückter Haltung diesem Befehl.
„Kurt, du bist ein Lügner!“ klang es ihm hart entgegen.
„Ja, Mama“, antwortete er kleinlaut und aufrichtig.
Er fühlte sich innerlich so vernichtet, daß ihm die Tränen in die Augen traten. Bei seinem offenen Geständnis wurde der Blick der Mutter milder, und ihre Stimme klang weniger hart, als sie sagte:
„Glaubst du etwa, daß ich einen Lügner liebhaben kann? Ich habe sehr um dich geweint!“
Da schlang er die Arme, so hoch er empor langen konnte, um sie und rief unter lautem Schluchzen:
„Mama, ich habe mich schon lange recht sehr geschämt: ich tue es gewiß nicht wieder, ich verspreche es dir!“
„Aber warum hast du denn die Magd belogen?“
„Weil sie es nicht wissen sollte, wohin ich ritt.“
„Und wo bist du gewesen?“
„Beim Staatsanwalt im Gefängnis.“
„Mein Gott, ist's möglich! Was hast du denn dort gewollt?“
„Oh, ich steckte auch den Revolver ein; ich wollte den Staatsanwalt erschießen, wenn er den Herrn Hauptmann und den Onkel Sternau nicht freiließ.“
„Das ist ja der reine Wahnsinn!“ rief sie erschrocken. „Hast du mit dem Staatsanwalt gesprochen?“
„Ja.“
„Und ihm mit dem Revolver gedroht?“
„Ja.“
Da schlug sie vor Entsetzen die Hände zusammen und rief:
„Jesus Maria, wie wird das gehen! Was hat der Staatsanwalt denn geantwortet? Es ist ein helles Wunder, daß er dich nicht sofort eingesteckt hat!“
„Oh, er war gar nicht böse. Er lachte ein klein wenig und sagte, daß er aus Angst die beiden Gefangenen freilassen werde.“
„Und dann?“
„Dann führte er mich in eine Stube, da saßen sie, rauchten Zigarren und tranken Wein mit ihm.“
„So sind sie gar nicht gefangen gewesen?“
„Nein. Ach, Mama, ich schäme mich schrecklich! Ich bin ein ganz fürchterlicher Dummkopf gewesen!“
Das klang so aus tiefstem Herzensgrund heraus, und dabei lief ihm eine solche Tränenflut über die vollen rosigen Wangen, daß sie nicht anders konnte, sie mußte ihn beruhigen. Er war ja ihr Liebling.
„Na, tröste dich nur! Ich werde zu den Herren gehen und für dich um Verzeihung bitten; sie sind ja da; ich sah sie vorhin kommen.“
„Mama, ich gehe mit!“ sagte er
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