42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
derselben Aufgabe wie sie. Das ist meine Meinung, Don Salmonno.“
Der kleine, schmächtige Erzieher stand dem langen, hageren ‚Vorgesetzten‘ furchtlos gegenüber, daß dieser letztere wirklich sich eingeschüchtert fühlte. Er entgegnete nichts und wiederholte nur:
„Wo seid Ihr gewesen?“
„Darüber habe ich eigentlich keine Rechenschaft zu geben, aber aus Höflichkeit will ich es Euch sagen, daß ich bei dem Buchhändler war.“
„Was tatet Ihr dort?“
„Ich bestellte einige Bücher.“
„Für wen?“
„Für Euren Sohn.“
Da runzelte der Bankier die Stirn und rief:
„Schon wieder Bücher! Könnt ihr Deutschen denn ohne Bücher gar nichts lehren und lernen! Ich habe im vorigen Monat gerade drei Duros dafür ausgeben müssen. Das ist mir doch zu horrend!“
„Sobald Ihr es fertigbringt, Eure Mahlzeiten ohne Speise und Trank abzuhalten, werde ich es auch versuchen, meinen Unterricht ohne Bücher zu geben. Nun aber bitte ich, mir zu sagen, zu welchem Zweck ich gerufen wurde.“
Der Bankier nahm die ihm gewordene Zurechtweisung mit saurer Miene hin und sagte:
„Ihr wißt, daß mein Töchterchen vor einer Woche starb?“
„Natürlich!“
„Und auch begraben wurde?“
„Ich glaube nicht, daß die Leiche noch im Haus liegt“, sagte Sternau mit unerschütterlicher Ironie.
„Und Ihr wißt auch, daß jene kleine Señora Wilhelmi die Bonne des Mädchens war?“
„Nicht die Bonne, sondern die Gouvernante. Es ist das ein Unterschied, Don Salmonno.“
„Meinetwegen! Nun begreift Ihr aber, daß ich diese Señora nicht mehr brauche, da das Kind nicht mehr lebt.“
„Ich begreife es.“
„Daß sie also mein Haus zu verlassen hat!“
„Daß sie es verlassen wird, ja.“
„Gut, sagt ihr das, Señor Sternau! Ich wünsche, daß sie noch heute oder spätestens morgen geht.“
„Das werde ich ihr allerdings nicht sagen, und das wird sie auch gar nicht tun, die Señora.“
„Warum nicht?“ fragte der Millionär mit gut gespielter Verwunderung.
„Sehr einfach. Ich werde es ihr nicht sagen, weil dies Eure Sache ist, und sie wird es nicht tun, weil ihr noch nicht gekündigt worden ist.“
„Verdammt! Das sagt Ihr mir!“
„Ja. Ihr hört es ja“, antwortete Sternau lächelnd.
„Ihr werdet also meinen Auftrag nicht ausrichten, frage ich?“
„Nein.“
„So könnt auch Ihr gehen, heute oder morgen!“ erklang es zornig.
„Oh, auch ich werde das nicht tun. Vergeßt nicht, Don Salmonno, daß wir nicht allein Pflichten zu erfüllen, sondern, Gott sei Dank, auch Rechte zu beanspruchen haben. Ich bin der Erzieher Eures Sohnes, nicht aber Euer Domestik, den Ihr mit Befehlen und Aufträgen zur Gouvernante senden könnt.“
Dagegen ließ sich allerdings nichts sagen; darum entgegnete der Bankier:
„Das weiß ich, Señor; aber ich glaubte, daß mein Wunsch williger erfüllt würde, wenn Ihr ihn überbringt.“
„Diese Eure Absicht habe ich bereits begriffen, ich sehe aber trotzdem davon ab, der Überbringer Eures Wunsches zu sein. Señora Wilhelmi steht in einem Engagement bei Euch, welches einer vierteljährigen Kündigung unterworfen ist. Das laufende Quartal geht in acht Wochen zu Ende, und dann habt Ihr das Recht zu kündigen.“
„Herr, so glaubt Ihr, daß ich verpflichtet bin, ihr noch einundzwanzig Wochen lang den Lohn zu zahlen?“ fragte der Bankier entsetzt.
„Den Lohn nicht, sondern das Gehalt; auch zwischen diesen beiden gibt es einen Unterschied.“
„Seid Ihr denn verrückt?“
„Hm, Don Salmonno, seid Ihr denn so unsinnig gewesen, die Erziehung Eures Sohnes einem Verrückten anzuvertrauen?“
Salmonno beantwortete die ironische Frage nicht, sondern behauptete:
„Der Tod hebt das Engagement auf, ich bezahle nichts!“
„Das geht mich nichts an; das ist Señora Wilhelmis Sache; ich glaube aber, daß diese Dame dem Richter die Entscheidung über diese Sache übergeben wird.“
Da erschrak der Bankier; er fürchtete nichts so sehr wie das Gericht. Darum sagte er:
„Nun wohl! Ich werde mir die Angelegenheit nochmals überlegen. Es ist gut. Señor!“
Er machte eine Bewegung des Verabschiedens; der Erzieher blieb aber stehen und sagte:
„Ich habe einige Ausgaben, Don Salmonno. Darf ich um ein Vierteljahresgehalt bitten?“
Der Millionär blickte den jungen Mann so erschrocken an, als ob er einen Geist sehe.
„Wo denkt Ihr hin!“ rief er. „Ein ganzes Vierteljahresgehalt! Das ist unmöglich!“
„Warum unmöglich? Habt Ihr kein Geld?“
„Geld?
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