42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
Hilfe!“
Der Herzog hatte sich keine Zeit genommen, die Tür zu schließen, und der Hilferuf drang also hell auf den Korridor hinaus. Bereits im nächsten Augenblick erklangen eilige Schritte. Der Herzog achtete ihrer nicht. Er hielt das zarte, schwache Wesen, welches sich aus allen Kräften gegen seine Umarmung sträubte, fest und wollte es auf den Mund küssen.
„Was geht hier vor?“ erklang es da hinter ihm.
Er wandte sich nach der Tür zurück und erblickte Sternau, welcher am Eingang stand. Die schmächtige und nicht hohe Gestalt desselben imponierte ihm nicht im geringsten.
„Was hier vorgeht?“ antwortete er. „Ah, das wird man sogleich zu sehen bekommen!“
Er näherte seinen Mund wieder den Lippen der Gouvernante; da aber stand Sternau auch schon an seiner Seite und legte ihm die Linke auf den Arm.
„Maskenscherze sind nicht verboten, aber Maskenroheiten wird man abzuweisen wissen“, sagte er. „Lassen Sie diese Señora los!“
„Alle Teufel, Knirps, was fällt dir ein!“ lachte der Herzog. „Packe dich fort, Kerl!“
Er senkte abermals den Kopf, um das Mädchen zu küssen, da aber ballte Sternau die Faust und schlug sie ihm mit solcher Gewalt unter das Kinn, daß er zurücktaumelte und die Hände von der Gouvernante ließ. Sobald sich diese frei fühlte, floh sie in das Nebenzimmer, welches sie, geradeso wie vorher Clarissa, hinter sich verschloß.
Der Hieb hatte nur für einen kurzen Augenblick gewirkt. Der Herzog richtete seine Gestalt hoch empor und donnerte dem Erzieher entgegen:
„Wurm, du wagst, mich zu schlagen? Ich werde dich zermalmen!“
Die Gouvernante hörte diese Drohung, und es wurde ihr himmelangst um Sternau, der dem riesigen Gegner gewiß nicht gewachsen war. Sie horchte, hörte aber kein Wort der Erwiderung aus dem Mund des Erziehers. Da erklang ein Schlag – und noch einer; es stürzte etwas Schweres zu Boden; sie hörte ein schleifendes Geräusch, welches sich entfernte; dann nahten sich wieder leichte Schritte dem Zimmer, und es klopfte an die Tür, hinter welcher sie stand.
„Fräulein Wilhelmi, er ist fort. Sie können wieder eintreten.“
Es war die Stimme Sternaus, welche diese Worte sprach.
„Ist es wahr?“ fragte sie, noch immer ungläubig.
Es schien ihr eine absolute Unmöglichkeit zu sein, daß der Riese diesem kleinen Sternau gewichen sei.
„Ja. Sie sind vollständig sicher“, antwortete der Erzieher.
Jetzt öffnete sie und trat schüchtern in den Wohnraum zurück. Wahrhaftig, da stand Sternau mit lächelnder Miene, und nicht das Geringste war an ihm zu sehen, was an einen Kampf mit einem solchen Gegner erinnert hätte.
„Ist es möglich? Sie sind es wirklich?“ fragte sie erstaunt.
„Warum soll ich es nicht sein?“
„Oh, dieser Riese!“
„Pah! Die Gestalt tut es nicht. Ich bin längere Jahre Fechtlehrer gewesen und weiß mit solchem Gesindel umzugehen.“ Und mit vergnügtem Lächeln fügte er hinzu: „Man hat auch seine Meriten!“
„So ging er nicht freiwillig?“
„Nein. Ich habe ihn zu Boden schlagen müssen –“
„Mein Gott!“
„Und dann nach der Treppe geschleift und hinuntergeworfen.“
„Wenn er wiederkommt!“
„Das wird er unterlassen.“
„Haben Sie sein Gesicht gesehen?“
„Nein. Ich nahm mir nicht die Mühe, seine Larve abzunehmen. Das Gesicht eines Schurken ist mir gleichgültig.“
„Aber wenn er sich rächt! Er schien ein vornehmer Herr zu sein.“
„So werde ich ihn ebensowenig fürchten wie heute. Ich hoffe nicht, daß der Schreck Ihnen geschadet hat, Fräulein Wilhelmi.“
„O nein. Aber ich war in einer ganz entsetzlichen Angst; er war so stark wie ein Simson oder Goliath!“
„Richtig! Und ich war der kleine David“, nickte Sternau freundlich. „Übrigens danke ich Ihnen recht herzlich, daß Sie mich herbeiriefen. Ich wollte, ich hätte etwas Besseres für Sie tun können, als Sie von einem solchen Bramarbas befreien. Wenn Sie nicht beabsichtigen, Ihr Zimmer zu verschließen, so bitte ich Sie, mich ja sofort zu rufen, wenn Sie einen ähnlichen Besuch erhalten sollten. Hier erhalten Sie auch Ihre Schleife zurück!“
Sie hatte noch gar nicht bemerkt, daß er diese Schleife in der Hand hielt. Er reichte sie ihr mit einem ernsten, beinahe traurigen Blick entgegen, der sie tief erröten machte.
„Herr Sternau –!“ stotterte sie. „Sie haben gesehen –?“
„Ja. Ich stand auf dem anderen Balkon, und Sie bemerkten mich nicht. Als ich dann den Perser in das Haus treten
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