42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
Schade nur, daß er sich so hartnäckig weigert, mir zu sagen, wer die beiden umgetauschten Knaben gewesen sind. Hm, es läßt sich doch etwas vermuten! Er ist Geschäftsführer des Grafen Emanuel de Rodriganda. Ich werde nachforschen! Der junge Graf soll zurückkehren, oder ist vielleicht gar schon da. Soll ich ihn beobachten lassen? Soll ich die Familienverhältnisse des Grafen ausforschen lassen? Ja, das wäre das sicherste Mittel. Aber durch wen?“
Seine nachdenkliche Miene erheiterte sich plötzlich; er stieß ein kurzes Lachen aus und meinte:
„Das ist allerdings ein lustiger Gedanke! Soll ich Mariano schicken, um das Nötige zu erfahren? Er ist der einzige, der dazu fähig ist. Er ist der einzige unter uns, der sich unter solchen Leuten fehlerlos bewegen kann. Ich habe ihn alles lehren lassen, was ein vornehmer Señor wissen muß; er reitet wie ein Engel, kann fechten, schießen, schwimmen wie ein Teufel, ist stark und tapfer, treu und anhänglich, dabei klug und listig – ja, ich werde es tun! Der Notar hat ihn nie gesehen; er wird ihn also nicht erkennen, er wird gar nicht ahnen, daß dieser junge, liebenswürdige und gewandte Mann der Knabe ist, den er einst töten lassen wollte. Per Dios, das ist ein wirkliches Abenteuer! Das ist ein Coup, der meinem Kopf die größte Ehre macht!“
Er schritt noch einige Zeit in der Zelle auf und ab und trat dann in den Nebenraum, um sich schlafen zu legen.
Als er am Morgen kaum erwacht war, trat der Pater Dominikaner bei ihm ein und meldete:
„Capitano, der fremde Mann, dessen Beichte ich heute in der Nacht hörte, ist soeben gestorben.“
„Gut, so sind wir ihn los. Man werfe ihn in die Schlucht!“
„Das werde ich nicht zugeben, Capitano! Er ist als ein reuiger Christ gestorben und soll als ein solcher auch begraben werden.“
„Mir gleich. Tut, was Ihr wollt, nur laßt mich dabei aus dem Spiel! Ist Mariano schon wach?“
„Ja.“
„Er soll gleich zu mir kommen!“
Der Pater entfernte sich, und kurze Zeit später trat Mariano ein. Er grüßte freundlich, und zwar mit der vertraulichen Untertänigkeit, welche er sich für den Umgang mit dem Hauptmann angeeignet hatte, und ließ sich nichts von der Gesinnung merken, die zu verbergen er sich vorgenommen hatte.
Der Capitano bot ihm einen Sitz an und begann:
„Mariano, wie befindet sich dein Rappenhengst?“
In den Zügen des Jünglings ward es hell, und in sein Gesicht stieg eine leichte Röte. Es war augenscheinlich, daß die Erwähnung des Pferdes ihm angenehm war.
„Er wird kaum zu bändigen sein“, antwortete er. „Er steht nun über einen Monat drüben in der Pferdehöhle, und ich habe ihn von den anderen Tieren fortnehmen müssen, weil er sie sonst zuschanden schlägt.“
„So nimm dich heute in acht, daß es kein Unglück gibt. Wenn so ein edles und mutiges Pferd vier Wochen lang den Reiter nicht getragen hat, so ist es schwer zu bändigen.“
„Ah! Soll ich ausreiten, Capitano?“
„Ja.“
„Wohin?“
„Weit. Nach Manresa und Schloß Rodriganda.“
„Das ist sehr weit, Hauptmann!“
„Du hast viel Zeit zu diesem Ausflug. Es ist möglich, daß du wochenlang dort verweilen wirst.“
Das Gesicht des Jünglings hellte sich immer mehr auf. Der Gedanke, auf eine so lange Zeit von seiner jetzigen düsteren Umgebung erlöst zu sein, war ihm der angenehmste, den er haben konnte.
„In einem Auftrag?“ fragte er.
„In einem sehr schwierigen noch dazu“, antwortete der Capitano. „Ist deine Garderobe instand?“
„Vollständig.“
„Auch die Uniformen?“
„Ja. Soll ich mich als Offizier verkleiden?“
„Als französischer Offizier. Du bist ja des Französischen vollständig mächtig. Ich werde dir einen Urlaubspaß geben, der auf den Husarenlieutenant Alfred de Lautreville lautet.“
„Und was ist meine Aufgabe, Capitano?“
„Du hast auf irgendeine Weise auf Schloß Rodriganda Zutritt zu suchen und dich dabei so zu verhalten, daß man dich veranlaßt, eine längere Zeit als Gast zu bleiben. Während dieser Zeit studierst du die Verhältnisse der Bewohnerschaft auf das sorgfältigste und speziellste. Ich werde dir darüber einen eingehenden Bericht abverlangen. Du bist klug genug zur Lösung einer solchen Aufgabe.“
„Willst du mir vielleicht einzelne Anhaltspunkte mitteilen, Hauptmann? Es wäre mir das lieb.“
„Ich kann dir gar nicht viel sagen. Aber da ist besonders ein Notar, ein gewisser Cortejo, welcher der Geschäftsführer des Grafen ist und den du
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