42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
Liebe mächtig in ihm emporflammte, so daß er sie unmöglich bewältigen konnte, und Amy sah in dem ritterlichen Jüngling die Verwirklichung ihres Ideals, ohne weiter und tiefer über die Gefühle nachzudenken, welche ihr Herz beseligten.
So verging über eine Woche, ohne daß irgendein Ereignis von außen her das Stilleben unterbrochen hätte. Man las, man promenierte, man fuhr zuweilen aus, man musizierte, und überall zeigte sich Mariano als ein vollendeter Kavalier. Nur bei der Musik schloß er sich von jeder Beteiligung aus. Er gestand aufrichtig, daß er nicht Pianino spielen könne.
Es war eines Abends zur Zeit der Dämmerung, der Arzt befand sich bei dem Grafen in dessen Zimmer, Rosa war mit dem Bruder ausgefahren, und der Lieutenant hatte wieder, wie oft, in der Galerie vor dem Bild gestanden, welches ihm so ähnlich war. Er trat aus der Galerie in die an dieselbe stoßende Bibliothek, in welcher es bereits ziemlich dunkel war. Darum bemerkte er nicht, daß Amy sich in derselben befand.
Sie hatte, in einer Fensternische sitzend, vorher in einem Buch gelesen und genoß jetzt die stille Dunkelstunde in jenem Hinterräumen, für welches die Dämmerung so sehr geeignet ist. Sie hörte ihn eintreten und verhielt sich ruhig, weil sie glaubte, daß er nur hindurchzugehen beabsichtige. Er aber tat dies nicht, sondern er trat an eins der anderen Fenster und blickte hinaus in die Landschaft, von welcher das scheidende Tageslicht zögernd Abschied nahm.
So vergingen einige Minuten in tiefer Stille, dann wendete er sich um, vielleicht um zu gehen, aber sein Blick fiel dabei auf eine spanische Gitarre, welche in der Nähe des Fensters an der Wand hing. Er nahm sie herab und fand, daß sie gestimmt sei. Rosa liebte dieses Instrument und hatte es am Nachmittag gespielt. Er griff einige Akkorde und begann dann einen spanischen Tanz, bei dessen rauschenden Klängen sich Amy unwillkürlich erhob.
Die Gitarre ist in Spanien ein sehr beliebtes Instrument; sie ist fast in jeder Familie zu finden, und man trifft nicht selten Leute, welche eine Virtuosität erlangt haben. Auch Amy hatte solche Spieler gehört, so aber wie der Lieutenant hatte noch keiner gespielt. Darum schlug sie, als das Spiel zu Ende war, die Hände zusammen und rief:
„Bravo! Señor! Das war ja ein Meisterstück! Und Sie sagen, daß Sie nicht spielen können!“
Er war anfangs erschrocken, trat aber dann näher und sagte:
„Ah, Señora, ich wußte nicht, daß Sie anwesend waren. Übrigens habe ich nur gesagt, daß ich nicht Pianino zu spielen verstehe.“
„Aber warum ließen Sie uns nicht wissen, daß Sie ein solcher Künstler auf der Gitarre sind?“
„Weil ich meine eigene Ansicht über die Musik habe.“
„Und welche Ansicht ist dies, Señor?“
„Die Musik ist vorzugsweise die Kunst des Gefühles, des Herzens, und niemand gibt seine Gefühle gern der Öffentlichkeit preis. Ich kann ein Konzert anhören und mich daran erfreuen, aber ich kann nicht meine eigenen Gedanken spielen, um sie hören zu lassen.“
„So sprechen Sie von Ihren eigenen Kompositionen?“
„Ich habe niemals den Namen einer Note lernen mögen. Ich spiele, was mir meine eigene Phantasie eingibt, und das spiele ich nur für mich und nicht für andere.“
„Oh, Sie sind egoistisch. Singen Sie auch?“
„Ja.“
„Was?“
„Was mir der Augenblick eingibt.“
„Sie sind also ein Improvisator! Und niemand darf Sie hören?“
„Niemand!“
„Gar niemand?“ fragte sie langsam und mit verlegenem Nachdruck.
„Gar niemand.“
„Auch – ich nicht, Señor?“
Er schwieg. Da trat sie nahe an ihn heran, legte ihm das kleine Händchen auf den Arm und sagte:
„Ich möchte Ihnen etwas sagen, was ich sonst keinem sagen würde.“
„Bitte sprechen Sie!“
Sie zögerte einige Augenblicke, und dann sprach sie mit leiser Stimme:
„Sie können alles, Sie wissen alles; ich habe Sie beobachtet und bin stolz auf Sie geworden. Aber eine Lücke fand ich doch, und das hat – ja, das hat mich geärgert.“
„Welche Lücke ist das, Señora?“ fragte er lächelnd.
„Sie waren nicht musikalisch. Ein Mann ohne Sinn für Töne kann kein Herz, kein Gemüt haben. Das ist es, was mich ärgerte. Ich wollte Sie so gern fehlerfrei sehen. Und nun ich jetzt bemerke, daß ich mich geirrt habe, sagen Sie, daß niemand, gar niemand Sie hören dürfe! Señor, lassen Sie mich Ihre Vertraute sein, lassen Sie mich in dem Bild, welches ich von Ihnen habe, jene Lücke ausfüllen,
Weitere Kostenlose Bücher