42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
welche mich bis heute ärgerte und schmerzte!“
Er hätte bei diesen Worten laut aufjubeln mögen. Sie gestand ihm, daß sie sich so viel mit seinem Bild beschäftigte; es hatte sie geärgert und geschmerzt, daß es etwas geben sollte, worin ihm andere überlegen seien; das machte ihn so glücklich, daß er antwortete:
„Nun wohl, Señora, ich werde Ihnen etwas vorsingen. Aber was?“
„Was singen Sie am liebsten?“
„Nichts und alles. Ich lerne niemals ein Lied; ich improvisiere nur.“
„Nun, so singen Sie …“
„Was?“ fragte er, als sie zögerte.
„Singen Sie ein Liebeslied.“
„Dann aber bin ich ja gezwungen, mir eine Dame zu denken, welcher ich diese Liebe und dieses Lied widme!“
„Natürlich!“ meinte sie in einem jetzt heiteren Ton.
„Aber wenn ich nun keine solche Dame kenne?“
„Gibt es wirklich keine Dame, der Sie ein solches Liebeslied widmen könnten, Señor?“
Er schwieg eine Weile, dann antwortete er:
„Ja, es gibt eine, und an diese will ich jetzt denken, wenn ich singe.“
Er führte sie zu dem Sessel, auf welchem sie vorhin gesessen hatte, und schritt ganz in den Hintergrund des Raumes zurück, wo er sich auf einen Diwan niederließ. Dort herrschte bereits ein solches Dunkel, daß er für sie nicht mehr zu erkennen war.
Es verging eine Weile; sie ahnte, daß er jetzt an keine andere als nur an sie allein denke. Dann hörte sie die Saiten klingen, leise und mild, dann stärker, in einzelnen Akkorden und Tönen, die sich suchten und endlich zu einer Melodie zusammenfanden. Und nun hörte sie seine Stimme:
„In deiner Liebe ruht mein Glauben.
Ruht all mein inniges Vertrau'n.
Will das Geschick dich mir auch rauben,
Ich werde doch den Himmel schaun,
In welchem deines Auges Sonne
Mich grüßt so klar, so hell, so rein.
Voll Prophezeiung süßer Wonne,
Daß du mein Eigen werdest sein.“
Als der erste Ton seiner Lippen erschollen war, war sie erschrocken zusammengezuckt. Das klang ja so süß, so unbeschreiblich mild, das konnte unmöglich die Stimme eines Mannes sein! So blieb es während des ganzen Verses. Nun aber leitete ein kurzes Zwischenspiel nach Moll hinüber, und es erklang lauter und bewegter die nächste Strophe:
„In deiner Liebe ruht mein Hoffen,
Ruht meiner Zukunft Heil und Licht.
Steht solch ein Paradies mir offen,
So tret' ich ein und zaudre nicht.
Das Leid und Weh vergangner Zeiten
Sinkt in Vergessenheit zurück,
Und Gottes Segen wird uns leiten
Zu dieses Lebens höchstem Glück.“
Jetzt leitete ein abermaliges Zwischenspiel nach der Durtonart zurück; die Akkorde wurden voller und kräftiger, die Melodie setzte sich aus festen, sicheren Tonmotiven zusammen, und auch die Stimme des Sängers erklang im vollen Brustton:
„In deiner Liebe ruht mein Leben,
Ruht meine ganze Seligkeit!
O laß, o laß nach dir mich streben,
Und sei mein Eigen allezeit.
Treu meines Herzens sichrem Schlage
Und meines Pulses heil'ger Macht,
Du bist die Sonne meiner Tage,
Und ohne dich ist's um mich Nacht!“
Das Lied war verklungen, und lange Zeit herrschte in dem jetzt dunklen Raum das tiefste Schweigen. Dann aber kam er langsam aus dem Hintergrund herbei, um das Instrument an seinen Platz zu hängen.
„Ist nun die böse Lücke verschwunden, Señora?“ fragte er.
„Oh, vollständig!“ meinte sie. „Und dieses Lied gab es vorher nicht? Dieses Lied haben Sie erst jetzt gedichtet und improvisiert?“
„Ja.“
„Und die Melodie auch?“
„Ebenso.“
„Aber, Señor, da sind Sie ja ein wirklicher, ein wahrhaftiger Dichter! Darf ich nun nur eins noch erfahren?“
„Sagen Sie, was, Señora.“
„An wen war das Lied gerichtet?“
„An – Sie!“
Kaum war das Wort erklungen, so fühlte sie sich von ihm umschlungen. Er zog sie an sich, legte ihr die Hand auf das schöne Köpfchen und sagte:
„Gott segne Sie, Miß Amy! Ich liebe Sie unendlich, aber ich darf jetzt noch nicht davon sprechen. Doch später werde ich Sie in Mexiko oder in jenem Winkel der Erde aufsuchen, um mir das Glück zu holen, welches ich nur bei Ihnen finden will!“
Ein langer, inniger Kuß glühte auf ihren Lippen, welche sich nicht sträubten, und dann verließ er die Bibliothek. Sie hörte seine verhallenden Schritte und sank dann in den Stuhl, wo sie noch lange saß, vor Glück und Freude weinend und die glühenden Wangen in den Händen verbergend.
Später hörte sie das Rasseln eines Wagens. Rosa kehrte mit
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