42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
freute sich kindlich über die Überraschung und dankte dem Vater durch eine innige Umarmung.
„Elvira sagte mir, daß auch Sie besorgt gewesen seien, mich zu erfreuen. Ich danke Ihnen“, sagte sie zu Sternau.
Dieser zog die Hand, welche sie ihm nochmals reichte, innig an die Lippen und antwortete:
„Was ich tat, ist nur eine Kleinigkeit; aber wenn Sie es mir gestatten, so würde ich es wagen, diesen Tag mit einer wirklichen Gabe zu feiern. Darf ich?“
Sie errötete, sagte aber:
„Aus Ihrer Hand ist mir jede Gabe, auch die kleinste, wert.“
„So wollen wir es wagen! Gott gebe seinen Segen!“
Er trat zum Grafen und nahm ihm die Binde von den Augen.
„Wenden Sie sich vom Fenster ab, Erlaucht!“ bat er, zitternd vor Erwartung. „Sehen Sie Ihr Kind?“
Das war so rasch gekommen, daß der Graf die Augen geschlossen hielt, als die Binde bereits entfernt war. Er stand an dem mit Blumen bedeckten Tisch, auf welchem er sich mit der Hand stützte, und wußte nicht, wie ihm geschah. Doch endlich faßte er sich und flüsterte:
„Welch großer Tag! Welch heiliger Augenblick! Mein Jesus und mein Gott, laß es gelingen!“
Er zitterte am ganzen Körper und schlug langsam die Augen auf. Sternau stand hinter ihm und konnte sein Angesicht nicht beobachten; aber er sah, daß sich die Arme des Grafen voll Sehnsucht und Entzücken erhoben, daß er einige Schritte vorwärts trat, der Tochter entgegen, und dabei rief:
„Heiliger Himmel! Ist es wahr? Ist es kein Traum? Ich sehe! Ich sehe einen Engel, einen Engel, so schön, so licht, so rein und so herrlich! Señor, Doktor, ist dies Wirklichkeit?“
„Es ist Wirklichkeit!“ antwortete Sternau mit tiefer, bebender Stimme, indem sein Auge voll Tränen stand.
„O du hochgelobte Dreieinigkeit, ist es wahr! Dieser Engel, wer ist es?“
„Vater, du meinst doch mich! Du siehst mich! Ich sehe es deinen Augen an!“ jubelte Rosa.
Sie warf sich in die Arme ihres Vaters. Diesen übermannte das Entzücken so, daß er in den Polster des Diwans sank und die Augen schloß.
„Um Gott“, rief Rosa, „er ist ohnmächtig; es wird ihm und seinen Augen schaden!“
„Haben Sie keine Sorge, Contezza!“ bat Sternau. „Er ist nur erschüttert, aber nicht ohnmächtig. Und seine Augen sind gesund; sie halten diese Freude sicher aus.“
„Ja, sie halten sie aus!“ flüsterte der Graf mit seligem Lächeln. „Ich fühle es. Ich darf sie öffnen.“
Er schlug die Augen wieder langsam auf und trank die Seligkeit aus dem entzückten Blick seines Kindes. Rosa wechselte mit Jubeln und Weinen; sie küßte mit Inbrunst die erstarkten Augen des Vaters, sie sprang von demselben weg und warf sich unbesorgt in die Arme des Doktors; sie eilte zurück, um mit lauten Ausrufen den Vater abermals zu umfangen. Dieser konnte den Blick nicht von ihren Zügen wenden. Er drückte sie an sich, er herzte sie, er nannte sie bei den süßesten Namen. Dazwischen faltete er zehn- und zwanzigmal die Hände, um Gott zu danken für die unbeschreibliche Freude dieser Stunde. Und endlich rief er, sich auf seine jetzt so naheliegende Pflicht besinnend:
„Aber Señor, Sie vergesse ich ja ganz und gar! Bitte, treten Sie näher, daß ich den Mann sehe, dem ich dies alles zu verdanken habe!“
Sternau trat zu ihm und reichte ihm die Hand. Noch standen die schweren Tränentropfen in seinen Augen. Der Graf nahm die ausgestreckte Rechte des Arztes liebevoll zwischen seine beiden Hände und blickte ihm lange, lange Zeit wortlos in das Angesicht.
„Ja“, sagte er endlich. „So habe ich Sie mir gedacht, so hoch und stark, so stolz und mild, so wahr und klar, so offen und freundlich, Señor, ich kann Ihnen nicht danken, aber ich gehöre Ihnen, solange ich lebe!“
Er zog Sternau an sich und küßte ihn, als ob er einen Sohn vor sich habe.
„Und nun die anderen, Señor!“ bat er.
„Don Emanuel, lassen Sie es einstweilen genug sein!“ antwortete der Arzt. „Schonen Sie sich und warten Sie bis zum Nachmittag. Diese Entsagung wird sich belohnen.“
„Auch meinen Sohn nicht?“
„Auch diesen nicht!“ bat Sternau, dem plötzlich ein Gedanke durch den Kopf ging. „Contezza Rosa gehört Ihnen; die anderen sehen Sie in der Dunkelstunde, wenn die Sonnenstrahlen ihre Schärfe verloren haben. Bitte gehorchen Sie mir nur noch dieses Mal!“
„Ich gehorche“, sagte der Graf. „Aber ich will mich nicht allein freuen. Rosa, sorge dafür, daß ganz Rodriganda sich freut. Man soll ein Fest feiern, ein großes
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