43 Gründe, warum es AUS ist
den ich empfinde, seit Al mich das erste Mal mit hierhergenommen hat. Wir waren in der Achten, und seine Cousine jobbte hier. Es ist die absolute Stille in diesem hohen Raum, meditatives Nachdenken wird von nichts anderem unterbrochen als von gewaltigen zischenden Dampfwolken und dem Klimpern der Münzen auf der Theke. Sie lassen dich da völlig in Ruhe, sie lassen dich leise reden oder lachen oder lesen oder diskutieren oder so, wo immer du dich hinsetzt. Sie räumen nicht den Tisch ab, solange du da sitzt, sie räuspern sich nicht vernehmlich, sie sagen kein Wort zu dir außer prego, bitte schön, wenn du selbst grazie sagst. Sie merken nichts – oder tun so –, wenn du gerade den letzten Schluck Kaffee geleert hast und auf einmal die Tasse auf den Tisch knallst, weil du gerade an irgendwas denken musstest, was dein Exfreund getan hat. Selbst wenn die Untertasse dabei zerspringt, sagen sie nichts. Bei Leopardi denken sie sich, du wirst schon Sorgen genug haben. Das könnten sie mal meiner Mutter beibringen, allen Müttern dieser Welt, wie man Menschen in Ruhe lässt. An einen besseren Ort hätte Al mich gar nicht bringen können, als wir eurem Haus immer näher kamen und dieser Brief noch längst nicht fertig war. Er hat den Karton hier hereingeschleppt, und keiner der Leopardi -Kellner mit ihren perfekt gestutzten Schnurrbärten und den langen Schürzen hat ein Wort darüber verloren, dass der große Karton auf dem Nebentisch stand, oder darüber, wie lange ich jetzt schon hier sitze und dir schreibe.
Das hier ist die Flasche mit dem Pensieri. Ich hab dir nie von Leopardi erzählt und auch nie davon, wie das war an dem Abend, als ich den Pensieri besorgt habe, nur diese eine Flasche, während du deine – ha! – diese Familiensache hattest. Ich hab’s dir nie erzählt, und du hast mich auch nie danach gefragt. Es gibt viel, was ich dir nie erzählt habe, Ed. Lass mich wenigstens etwas davon nachholen.
Es war später Nachmittag, genug Tee, genug Mom, als ich endlich den Boris-Vian-Park von mir abduschte und in meinem Zimmer saß, als wäre ich seit hundert Jahren nicht mehr dort gewesen, mein Rucksack stand seit Freitag offen am Boden, der Wimpel vom Spiel lag zusammengerollt auf meinem Schreibtisch. Noch in mein Handtuch gewickelt, hob ich ein paar Sachen auf, rieb an dem Kaffeefleck an meinem Kragen und hängte das tropfnasse Teil hoffnungsvoll in der Dusche auf, ich machte Musik an und stellte sie wieder ab, nichts hörte sich richtig an, ich wollte nur Hawk Davies, und den hatte ich nicht. Dann tat ich etwas, was mir peinlich war, ich nahm das Telefon und rief Al an, und während es läutete, ließ ich mich aufs Bett fallen und schlug Wenn die Lichter ausgehen: Eine kurze illustrierte Geschichte des Films auf.
»Hallo?«
»Sollte es einen Film geben, der mit mehr Fantasie und größerer Eleganz die zarten und die leidenschaftlichen Wahrheiten des menschlichen Herzens freilegt«, sagte ich, »dann muss diese Kritikerin in aller Demut zugeben, dass sie ihn erst noch entdecken muss.«
Als Seufzer drang knisternd an mein Ohr. »Hey, Min.«
»Zwei Paar Schuhe, ein Film, der bei Erscheinen von der Kritik schlicht ignoriert und zeitweise sogar vom Regisseur selbst als unbedeutend abgetan und verworfen wurde, ist wie eine Vulkaninsel aus dem Meer langsam aufgetaucht und hat den ihm zustehenden Platz als bedeutender Meilenstein am Horizont der Filmgeschichte eingenommen.«
»Bitte sag mir, dass du das jetzt aus irgendwas vorliest – anderenfalls wäre das jetzt selbst für deine Verhältnisse ein bisschen übertrieben.«
» Wenn die Lichter ausgehen: Eine kurze illustrierte Geschichte des Films. Komm, wir sehen uns das heute Abend an.«
»Was?«
» Zwei Paar Schuhe. Ach bitte! Ich geh beim Rampenlicht vorbei und leihe ihn uns aus. Du musst nichts anderes tun als Popcorn machen und eine Hose anziehen.«
Al hatte mir einmal erzählt, dass er normalerweise, wenn er mit mir telefoniert, nur in Boxershorts durchs Zimmer läuft. Wir haben dann einmal – so früh am Morgen, dass er noch nicht richtig bei Verstand war – einen Deal gemacht: Ich würde nie jemandem davon erzählen, wenn ich ihn dafür bis ans Ende aller Tage gnadenlos damit aufziehen dürfe. »Min, ist dir eigentlich klar, wie spät es ist?«
»Halb fünf.«
»Viertel vor fünf«, sagte er. »Am Samstag. Du rufst mich an, um Pläne für den Samstagabend zu machen, wenn der Samstagabend schon angefangen hat.«
»Jetzt sei nicht gleich wieder
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