434 Tage
eben nichts. Es muss ein Schock sein, die Mustertochter auf dem Fußboden mit einem Fremden vorzufinden. Sie hätten wirklich nicht zu einem unglücklicheren Zeitpunkt zu Hause ankommen können. Im Halbdunkel sah das alles eigentlich noch ganz harmlos aus, doch im grellen Licht erinnert diese Szene spontan an den Schulmädchen-Report. Petra auf dem Rücken, fremder Typ zwischen ihren Schenkeln. Hm. Das wird Ärger geben. Und dann fängt er an.
Als ihre Mutter lauthals zu schreien anfängt, packen alle hastig ihre Sachen zusammen und verlassen fluchtartig das Haus. Im Augenwinkel sehe ich Christoph und Kathi. Sie rückt ihren Rock zurecht. Ich werfe mir die Tasche über die Schulter und fliehe mit der Herde nach draußen.
Einen Moment später lehne ich am Gartenzaun und warte auf Caro. Menschentrauben lösen sich auf und verschwinden in alle Richtungen. Und da ist sie. Hand in Hand mit Kai. Und neben ihm steht er.
…
Wir gehen in Richtung Auto. Kai und Caro gehen voraus, Julian und ich hinterher. Ich glaube, ich war in meinem ganzen Leben noch nicht so nervös. Und in diesem Moment weiß ich, dass ich diesen Abend niemals vergessen werde.
Niemand spricht ein Wort. Da ist nur die Musik aus dem Radio und die sommerliche Morgenstimmung. Ich genieße den erfrischenden Wind. Mit geschlossenen Augen sauge ich den warmen Geruch des Sommers in mich auf. Ich schaue unauffällig zu Julian hinüber und dann ganz schnell wieder weg. Ich spüre die Wärme seines Arms an meinem. Unsere Haut trennen nur wenige Millimeter. Als wir abbiegen, strömt lauer Wind ins Auto und trägt seinen Duft zu mir. Das, was gerade in mir passiert, habe ich noch nie gespürt. Es ist, als hätte ich mich noch nie wirklich gespürt. So, als würde jede meiner Zellen tanzen. Meine Hände und Füße sind eiskalt und die unsichtbaren Fäden kontrollieren noch immer mein Gesicht. Mein Körper ist mir auf eine wunderbare Art fremd. Ich fühle mich, wie auf Droge. Und meine Droge sitzt direkt neben mir.
Kapitel 9
In meinem Zimmer ist es mucksmäuschenstill. Alles ist sauber und geordnet, ganz im Gegensatz zu meinem Kopf, in dem alles wirr und chaotisch aussieht. Wie konnte er das nur sagen? Ich bin nicht verbittert. Oder vielleicht bin ich es. Und wenn ich es bin, dann ist er daran nicht ganz unbeteiligt. Außerdem bin ich es nicht. Verbittert, meine ich. Vorsichtig vielleicht. Und das ist auch vernünftig. Ich kenne die alte Anja. Ich erinnere mich an die unsichtbaren Fäden. Und ich erinnere mich, wer sie in der Hand hatte. Dann konnte er es sich eben nicht vorstellen, so lange mit mir zusammen zu sein. Wen interessiert’s? Er wird eben irgendwann allein in einem modernen Stadthaus sterben. Umgeben von all den Dingen, die man nicht braucht. Von all den Uhren und Maßanzügen und Lederschuhen. In der Einfahrt wird ein teures Auto stehen. Er wird alles haben, aber sein Herz wird auf die Größe einer verschrumpelten Rosine verkümmert sein. Irgendwann wird ihm auffallen, dass Katja ihm nicht das Wasser reichen kann. Und dann wird er bemerken, dass er bis in sein Inneres voll ist mit Oberflächlichkeit.
Ich hätte ihn trotzdem nie als alten Bekannten vorgestellt. Okay. Er ist über mich hinweg. Das sollte er auch. Es wäre auch armselig, wenn er es nicht wäre. Wir haben beide weitergemacht und zwei völlig unterschiedliche Leben. Und auch das ist okay. Aber mich verbittert zu nennen ist nicht okay. Und zu behaupten, dass ich mich für Tobias schäme, ist eine bodenlose Frechheit. Eine alte Bekannte. Pff. Warum denke ich überhaupt darüber nach? Ich bin glücklich verheiratet. Ich bin Anja Plöger und ich bin glücklich verheiratet mit Tobias. Julian ist ein verblasster Schatten, mehr nicht. Soll er doch zehn Jahre mit seiner Katja zusammen sein. Mir doch egal. Ich bin nicht mehr die Anja von früher. Die unsichere, schüchterne Anja, die sich nicht traut zu sagen, was sie denkt. Die Anja, die Angst hat, von Julian verlassen oder ausgelacht oder ignoriert zu werden. Die Anja, die Sex mit Liebe verwechselt. Alles ist anders. Ich bin erfolgreich und selbstständig. Und auch ein Julian kann daran nichts ändern. Denn zum ersten Mal habe ich mit Julian zu tun und weiß wer ich bin, ohne, dass er die Fäden in der Hand hält.
…
Als ich die Augen öffne, ist es bereits hell. Die Sonne strahlt durch die perfekt geputzten Fenster und legt ein sanftes Lächeln auf mein Gesicht. Es fühlt sich wirklich gut an, wenn es einem gut geht. Der Tintenfisch
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