434 Tage
Seine Augen sind durchzogen von unzähligen winzigen Linien. Dieser Anblick erinnert mich an antikes, brüchiges Porzellan. Seine Lippen liegen spröde und farblos in seinem Gesicht. „Du hattest auch den Tintenfisch“, stelle ich fest.
„Bitte sag nicht dieses Wort.“ Während er das sagt, schließt er die Augen. Falten der Anstrengung legen sich auf seine Stirn. Und ich kann mir bildlich vorstellen, was ihm gerade durch den Kopf geht.
„Ihr Tee, Madame.“
Ich schaue in die wachen Augen des Kellners. Sie sind gütig und erinnern mich irgendwie an zu Hause. „Dankeschön.“
„Monsieur, möchten Sie vielleicht auch einen Kamillentee?“
Julian schluckt, dann nickt er. „Ein Kamillentee... Ja, bitte.“
…
„Ich habe mit dem Arzt gesprochen, Madame, er meint, diese Tabletten sollten helfen. Nehmen Sie gleich zwei und wenn es innerhalb einer Stunde nicht besser wird, weitere zwei.“ Er hält mir eine kleine Schachtel entgegen. „Es tut mir Leid, dass Sie so lange warten mussten, aber der Arzt war gerade bei einer Patientin.“
„Vielen Dank für Ihre Mühe“, sage ich. „Ich hoffe, ich muss Sie nicht noch einmal stören.“
„Ich bitte Sie, Madame. Wenn Sie noch etwas brauchen, egal was , kommen Sie zu mir.“
Ich schaue dem Poitier nach, dann öffne ich die Schachtel und drücke vier Tabletten aus der Verpackung. Zwei reiche ich Julian. „Hier.“ Seine Augen danken mir, bevor er es tut. Ich spüle die Tabletten mit einem großen Schluck Tee hinunter, dann reiche ich ihm meine Tasse. Einen Augenblick zögert er, dann nimmt er sie.
…
„Du hast mein Leben gerettet.“ Julian liegt mit geschlossenen Augen auf einer Chaiselongue und bewegt sich nicht. Ich sitze auf dem Sessel und frage mich, ob es richtig war, ihm das Leben zu retten. „Weißt du, woran mich das erinnert?“
„Nein, an was?“
„An Malta.“, sagt Julian und schaut mich an.
„Es wundert mich, dass du dich daran erinnerst“, antworte ich gleichgültig.
„Und wieso?“
„Vielleicht, weil du mich deiner Freundin, als eine alte Bekannte vorgestellt hast“, antworte ich und betrachte die glitzernde Oberfläche des Sees.
„Was hätte ich denn sagen sollen?“
„Keine Ahnung, die Wahrheit vielleicht?“
„So, wie du die Wahrheit gesagt hast?“
Ich schaue ihn an. Seine linke Augenbraue wandert in Richtung Haaransatz. „Wie meinst du das?“
„Lass mich nachdenken“, sagt er und setzt sich langsam auf. „Wenn ich mich recht erinnere, hast du gesagt, du wärst beim Essen mit einem alten Freund.“
„Ich habe gesagt mit einem Freund und nicht mit einem alten Freund.“
„Wir auch immer.“
„Außerdem dachte ich, ich tue dir damit einen Gefallen.“
„Einen Gefallen?“
„Ja, Julian, einen Gefallen.“
„Okay und warum?“
„Ich könnte mich irren, aber ich denke, Katja hätte sich vielleicht ein bisschen übergangen gefühlt, auf diese Weise zu erfahren, dass die alte Bekannte eigentlich deine Exfreundin ist.“
Er öffnet den Mund, dann schließt er ihn wieder. „Da du es so mit der Wahrheit hast, hast du ihm bestimmt später davon erzählt.“
„Während ich kotzend über der Kloschüssel hing, hatte ich leider keine Zeit, ihn anzurufen.“ Seine pechschwarzen Augen mustern mich mit diesem undurchdringlichen Blick. Sie lächeln, so als würden sie mich zum Tanzen auffordern. „Außerdem sind es zwölf Jahre.“, sage ich zusammenhangslos. Und eigentlich sage das nicht ich. Mein Dämon sagt es, weil er sich nicht zurückhalten kann, wenn er wütend ist.
„Was sind zwölf Jahre?“
„Wir haben uns seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen.“
„Acht oder zwölf. Das spielt doch keine Rolle.“ Sein Blick sticht mich in die Seite. „Oder spielt das eine Rolle?“
„Nein, im Grunde ist es egal.“ Ich starre aus dem Fenster. Die Sonne geht langsam auf und legt ihr warmes Licht wie eine riesige transparente Decke auf die Baumkronen. Die glatte Wasseroberfläche des Sees glitzert und schimmert in orange und rot.
„Wie hast du deinen Mann eigentlich kennengelernt?“
„Wollen wir wirklich darüber reden?“
„Warum nicht?“, fragt er verständnislos, „Was spricht dagegen?“
Was dagegen spricht? Na, vielleicht, dass du mir das Herz mit brachialer Gewalt aus der Brust gerissen hast. Vielleicht, weil ich über zwei Jahre gebraucht habe, um mich auch nur ansatzweise von dir zu erholen. Vielleicht, weil ich mir vorgenommen habe, dich für immer aus meinem Leben zu streichen.
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