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434 Tage

434 Tage

Titel: 434 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Freytag
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zu weinen, dem ich so offensichtlich egal bin und gehe in Richtung Garten. Ich steige über Caro und den Kerl aus der Parallelklasse, dessen Namen ich vergessen habe und quetsche mich zwischen Leuten hindurch, von denen ich mir sicher bin, dass ich sie noch nie gesehen habe, von denen die meisten vermutlich an meiner Schule sind.
    Und da sitzt er. Dieselbe Zunge, die eben noch mit mir Schluss gemacht hat, steckt in diesem Augenblick in Kathis Hals. Und obwohl ich weiß, dass Christoph ein miserabler Küsser ist, trifft es mich, das zu sehen.
    Kathi hat gesund aussehendes Haar, das glänzt. In ihrer Welt gibt es keine Schuppen und keinen fettigen Ansatz. Es gibt auch keine Hautunreinheiten oder Deos, die einen im Stich lassen. Das ist alles reserviert für meine Welt. Sie ist klein und zierlich und hat diesen püppchenhaften Gesichtsausdruck. Und diesen Blick. So als wäre hinter ihren Augen ein Vakuum. Oder ein kleines Walnuss-großes hirnähnliches Gebilde, das bei jeder Bewegung klappernd gegen die Innenseiten ihres Schädels knallt. Ihr Kopf ist eine von außen gut aussehende Rassel. Ihr Haar ist feinsäuberlich über die rechte Schulter drapiert. Es schmiegt sich wie ein langer Vorhang an ihren Körper. Am liebsten würde ich es ihr abschneiden.
    Ich betrachte diesen Kuss, der mich irgendwie spontan an einen Mordversuch erinnert. Ihr Gesicht ist verkrampft, die Augen fest zusammengekniffen, ihr Mund zu einem stummen Schrei geformt. Und er wühlt mit seiner Zunge in ihrer Mundhöhle herum wie ein schleimiges Kriechtier. Ich spüre, dass er jeden Augenblick die Augen öffnen wird, und deswegen zwinge ich mich wegzusehen und starre stattdessen auf seine Schuhe.
    Ziemlich plötzlich hören sie auf, sich zu küssen und Christoph steht auf. Ich lehne in der Tür und versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr er mich gedemütigt hat. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, schiebt er sich an mir vorbei und verschwindet im Wohnzimmer.
    Als Kathi mich sieht, schaut sie einen kurzen Moment schuldbewusst zu Boden. Es ist schon seltsam. Ich weiß, ich sollte auf Christoph sauer sein. Und das bin ich auch, aber Kathi könnte ich erwürgen. Vielleicht weil ich mir von einer Freundin etwas anderes erwarten würde. Ich kenne sie seit dem Kindergarten. Und vielleicht habe ich selektive Erinnerungen an diese Zeit, aber es kommt mir so vor, als hätte sie es schon damals einfacher gehabt. Das ist der Vakuum-Vorteil. Da helfen einem alle, weil sie denken, dass man alleine nicht überleben könnte.
    Eine Weile schauen wir uns direkt in die Augen, dann wendet sie sich ab. Wenigstens diesen Kampf habe ich gewonnen, auch, wenn das zugegebenermaßen der unwichtigere war. Ich drehe mich um und schaue ins Wohnzimmer auf der Suche nach Caro, doch ich kann sie nirgends sehen. Mein Blick schweift weiter durchs Halbdunkel, bis er plötzlich an jemandem haften bleibt.
     
Kapitel 7  
    „Ich werde gleich nachsehen, Madame. Lassen Sie sich doch einstweilen in der Hotelbar einen Tee bringen und ich kümmere mich um die Tabletten.“
    Ich versuche zu lächeln, doch es fühlt sich nicht an, wie ein Lächeln, sondern eher wie eine Grimasse. „Vielen Dank.“
    „Das ist doch selbstverständlich, Madame.“
    Debussys Clair de Lune empfängt mich wie ein alter Freund, als ich die Bar betrete. Ich schleiche zu einem der ausladenden, gestreiften Ohrensessel und setze mich. Dieses Stück ist wie warme Milch mit Honig, oder eine Nackenmassage. Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Es blendet jeden Gedanken aus. Und vielleicht brauche ich gar nicht mehr. Vielleicht reichen diese sanften Klavierklänge.
    „Madame?“ Ich öffne die Augen. „Kann ich Ihnen etwas bringen?“, flüstert ein Kellner mit wachen, freundlichen Augen.
    „Ja, ich hätte gerne einen Kamillentee.“
    „Fühlen Sie sich nicht gut? Soll ich einen Arzt bestellen?“
    „Ich brauche keinen Arzt.“, sage ich lächelnd. Und dieses Lächeln gelingt mir. „Aber vielen Dank.“
    „Der Kamillentee kommt sofort, Madame.“
    Gerade, als ich die Augen wieder schließen will, entdecke ich ihn im Eingangsbereich. Die letzten Tintenfischreste rebellieren. Und auch Debussy kann daran nichts ändern.
    „Anja?“
    Ich fasse es nicht. Ist dieses Hotel nicht groß genug für uns beide? „Julian“, sage ich und versuche das eklige Kratzen in meinem Hals zu ignorieren. Er setzt sich neben mich auf einen der Sessel. Sein Gesicht ist fahl und grau, die Augenhöhlen dunkel hinterlegt.

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