434 Tage
dann eher ein mitleidiger Gesichtsausdruck. Meine Geschwister haben einfach nur gelacht. Aber was verstehen die schon? Julian und ich brauchen nicht viel Platz. Und ich finde es schön, auf München zu blicken. Über uns ist nur der Himmel. Der kleine Balkon ragt über die Dächer der Stadt. Wir sind abgeschnitten vom Treiben der anderen. Wir kennen die anderen nicht. Und genau das macht diese Wohnung wundervoll, auch, wenn das außer uns keiner so sieht.
…
Wir sitzen auf dem Balkon. Wir sitzen auf dem Boden, weil wir keine Stühle haben. Und damit meine ich nicht Balkonstühle. Wir haben gar keine. Noch nicht. Im Grunde haben wir fast gar nichts. Das Beste daran, fast gar nichts zu haben, ist, wenn man trotzdem nichts vermisst. Wir haben eine Matratze, und eine Kleiderstange. Wir haben ein paar Töpfe und Pfannen und eine alte Kommode. Und natürlich ein paar Teller und Tassen und so ein Zeug. Aber sonst nichts. Und mehr brauchen wir nicht. Die Küche ist etwas heruntergekommen, das Bad schrecklich gefliest. Eigentlich ist alles an dieser Wohnung schäbig. Aber das stört mich nicht. Das alles ist unwichtig.
„Ich habe etwas für dich.“ Julian streckt mir eine kleine Schachtel entgegen.
„Für mich?“, frage ich überrascht.
„Heute vor genau zwei Jahren hast du mich zum ersten Mal geküsst.“ Ich fasse es nicht, dass er sich das gemerkt hat. Ich dachte, es wäre so eine typische Mädchen-Sache, sich so ein Zeug zu merken. „Es gibt niemanden, der mir so wichtig ist wie du.“ Ich schaue in seine schwarzen Augen, dann öffne ich die kleine dunkelgraue Schachtel. Auf einem glänzenden Samtkissen liegt eine winzige Muschel. Sie glitzert silbern im Sonnenlicht. „Ich weiß, wie gerne du wegfahren wolltest, und dann habe ich diesen Anhänger gesehen und musste sofort an dich denken.“ Ich kann nicht sprechen. Ich möchte etwas sagen. Ich möchte mich bedanken, doch es geht nicht. Meine Kehle ist zugeschnürt. Und meine Muskeln versteinert. „Ich weiß, das ist nicht das gleiche wie wegfahren, aber ich dachte...“
„Danke.“, krächze ich. „Ich liebe die Kette.“
„Sie gefällt dir?“ Er klingt erleichtert.
„Ich werde sie immer tragen.“
…
Wir stehen unter der Dusche. Das kühle Wasser rettet mein Leben. Und nach Julians entspanntem Gesicht zu urteilen, geht es ihm ähnlich. Ich könnte ewig hier stehen bleiben. Mit ihm. Seine Haut an meiner.
„Mit geschlossenen Augen ist das fast wie Urlaub“, sage ich leise und denke an die kleine Muschel, die um meinen Hals hängt.
„Mir ist völlig egal, wo ich bin, Hauptsache, du bist auch dort.“
Als wir uns wenig später abtrocknen, turnen die Eichhörnchen in meinem Brustkorb herum. Sie toben und springen. Und ich muss lachen.
„Warum lachst du?“
„Ach, das ist albern.“
„Na und?“ Er grinst mich an. „Sag schon.“
„Aber das ist so kindisch.“
„Wen interessiert’s? Dann ist es eben kindisch.“
„Wenn du mich nervös machst oder ich deinetwegen aufgeregt bin, dann spüre ich in meinem Brustkorb Eichhörnchen.“
„Was?“, fragt er lachend.
„Na, es fühlt sich eben so kribbelig an, so als wären da Eichhörnchen in meinem Brustkorb.“
„Eichhörnchen.“ Er lacht noch immer.
„Ich hätte es dir nicht sagen sollen“, sage ich peinlich berührt. Und ich hasse die Tatsache, dass meine Eichhörnchen mir plötzlich peinlich sind. Das waren sie nie.
„Das ist mit Abstand der wundervollste Vergleich, den ich je gehört habe.“
„Das sagst du jetzt doch nur so.“
„Nein, im Ernst.“ Er hält mich am Arm fest. „Wegen genau solcher Dinge werde ich dich für immer lieben.“
Kapitel 24
Wir liegen atemlos nebeneinander. Ich japse nach Luft. Eine Überdosis Hormone tanzt durch meinen Körper. Mit geschlossenen Augen genieße ich seinen Duft. Die Mischung aus Schweiß und Parfum.
Die Sonne geht bereits auf. Der Tag bringt das Licht. Und mit dem Licht die reale Welt. Die, in der ich verheiratet bin und meinen Mann betrogen habe. Ich bin eine böse Betrügerin. Eine Ehebrecherin. Nach dieser Definition ist meine Ehe gebrochen und damit bin ich nicht mehr verheiratet. Und wenn ich nicht mehr verheiratet bin, bin ich ab jetzt auch keine Ehebrecherin mehr. Oder kann man eine Ehe immer wieder brechen. So wie einen Knochen. Habe ich Schuldgefühle, weil ich mit Julian geschlafen habe? Oder habe ich Schuldgefühle, weil ich keine habe?
Julian dreht sich zu mir. „Bist du müde?“ Ich schüttle den Kopf.
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