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434 Tage

434 Tage

Titel: 434 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Freytag
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Kommerz. Doch ich höre ihn nur dumpf, so als hätte ich Watte in den Ohren. Und am Rand bemerke ich ein paar Betrunkene, die an uns vorbeitorkeln. Doch das Einzige, was ich gestochen scharf wahrnehme, ist er. Seine Stimme, sein Gesicht und sein Duft, den der Wind in unregelmäßigen Abständen zu mit hinüber trägt. So als wollte er mich quälen.
    Das künstliche Licht durchbricht die Nacht. Die sommerliche Luft streift meine Haut und ich stelle mir vor, es wären seine Fingerkuppen. Bei diesem Gedanken läuft es mir eiskalt über den Rücken, meine Beine hinunter zu meinen Füßen und wieder zurück. Das Leben bitzelt durch meine Adern. Wir sind allein, und doch scheint es so, als wäre eine dritte Person anwesend. Sie heißt Nervosität und sitzt zwischen uns.
    …
    Als ich aus dem Auto steige, ist der Himmel bereits rosa gefärbt. Er sieht aus wie aus einem Bild von Bob Ross. Kitschig und unecht. Julian begleitet mich zur Tür. Und die dritte Person folgt ihm.
    „Das war ein schöner Abend.“, sage ich und drehe mich zu ihm um, während meine zitternden Hände mit dem Hausschlüssel spielen.
    „Ja, finde ich auch.“
    Das Eichhörnchen springt, der Dämon grollt und ich lächle. „Gute Nacht.“, sage ich und gehe einen Schritt auf ihn zu. Küss mich. Jetzt küss mich doch endlich. Doch er tut es nicht. Er wird mir wieder diese zwei albernen Küsschen auf die Wangen geben. Mein Dämon boxt mir in den Magen. Und wie auf Kommando, stelle ich mich auf die Zehenspitzen, nehme sein Gesicht zwischen meine Hände und küsse ihn. Und dieser Kuss ist unbeschreiblich. Er ist wie ein Feuerwerk in meinem Kopf, wie Millionen winziger Explosionen auf meiner Haut. Mein Dämon war noch nie so glücklich.
    …
    „Ich störe nur ungern...“, höre ich Kai flüstern, „... aber Caro möchte nach Hause.“
    Julians Lippen lösen sich von meinen. Als ich die Augen öffne, strahlen mich seine an. Das war mit Abstand der absolut wunderbarste Augenblick meines Lebens. Ich bin abhängig. Hoffnungslos verfallen.
    „Ich muss los.“ In seiner Stimme höre ich Bedauern.
    „Du kannst hier schlafen.“, höre ich mich antworten. Und ich bin selbst überrascht über dieses Angebot.
    Er wirkt irritiert. „Bist du sicher?“ Ich nicke. „Was wird deine Mutter sagen?“
    „Es wird ihr nichts ausmachen.“ Ich versuche überzeugend zu klingen, weil ich mir eigentlich gar nicht so sicher bin, was sie dazu sagen wird. „Bleib hier.“
    Einen Moment lang mustert er mich eindringlich, dann dreht er sich zu Kai. „Ihr könnt fahren, ich bleibe.“
    „Du bleibst?“, fragt Kai grinsend. Julian und ich nicken, wie zwei artige Schulkinder. „Na, dann. Schlaft schön.“
     
Kapitel 22  
    Tobias starrt mich an, sagt aber nichts. Zumindest nicht gleich. Und so sehr es mich auch irritiert, es fühlt sich wunderbar an, es endlich gesagt zu haben. Endlich dazu zu stehen. Zu ihm zu stehen. Diese ewige Lügerei frisst einen langsam von innen auf. Es ist wie ein schleichender Tod. Und ja, ich weiß, er hat es nicht verdient, meinetwegen zu leiden. Und ich weiß auch, dass die Erleichterung meines Gewissens, ihn belastet und sein Leiden bedeutet, aber in diesem Moment fühle ich mich zum ersten Mal seit Langem frei, fast schwerelos.
    „Ich wusste es.“ Er sagt es so leise, dass ich Mühe habe, ihn zu verstehen. „Ich habe es die ganze Zeit gewusst.“ Seine Stimme klingt leer und irgendwie fremd.
    „Du hast es gewusst?“
    „Ich wollte es nicht glauben, aber ich habe es gewusst.“ Ich schaue Tobias lange an, der lediglich seine Hände betrachtet. „Wer ist es?“ Ich wünschte, diese Frage wäre erst später gekommen. Nein, stimmt nicht. Ich wünschte, diese Frage wäre nie gekommen. Ich hatte mit einem Warum? gerechnet oder einem Wie konntest du das tun? oder einem Hau ab! Sogar mit einer Ohrfeige im Affekt. Aber nicht mit dieser Frage. „Kenne ich ihn?“
    „Du hast ihn nie gesehen“, antworte ich und bin stolz auf diese Formulierung.
    „Wie lange schon?“
    Und wieder überrascht er mich. Und das nicht mit der Frage, sondern mit dieser Ruhe. „Seit einem Jahr.“ Und ich muss meine Stimme nicht verstellen, um schuldbewusst zu klingen.
    „Seit einem Jahr.“, wiederholt er meine Antwort. Und dann, ganz unvermittelt schaut er mich an. „Genf.“ Und in dieser Sekunde weiß ich, dass er es weiß. „Hat es in Genf angefangen?“
    Ich seufze. „Ja, hat es.“
    „Bitte nicht mit ihm. “ Vielleicht sollte ich lügen. Ich meine, so

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