434 Tage
was mein Vater von mir denkt. Du hast mich aufgeweckt aus einem Leben, von dem ich überzeugt war, dass es zu mir passt. Und nach deinem Brief wusste ich es plötzlich. Vielleicht habe ich es schon vorher gewusst, aber ich habe nicht gehandelt. Und dann, als alles sowieso schon scheißegal war, da habe ich mich getraut, den Schritt zu machen, den ich wirklich wollte. Vielleicht ist es also, neben all den Gemeinheiten, die ich dir schreibe, tatsächlich angebracht, auch danke zu sagen. Sicher nicht dafür, dass du mich verlassen hast (und schon gar nicht für die Art, wie du es getan hast), sondern dafür, dass du mich wieder daran erinnert hast, wer ich eigentlich bin. Für diese Ehrlichkeit danke ich dir, Anja. Ich wünschte nur, du hättest nicht in demselben Brief mit mir Schluss gemacht. Aber vielleicht musste es so sein. Vielleicht hast du etwas gespürt, das ich nicht gespürt habe, oder einfach nicht spüren wollte. Vielleicht war unsere Zeit einfach vorbei.
Ich hätte die Zeit in New York sicher auch genossen, wenn wir zusammen geblieben wären. Und doch wäre ein Teil von mir nie wirklich hier gewesen. Er wäre um dich gekreist (ja, das ist auch jetzt so, aber es ist anders). Ich wäre am laufenden Band eifersüchtig gewesen (was ich jetzt zugegebenermaßen auch bin, aber davon weißt du nichts), ich hätte jeden Tag alles um unsere Telefonate arrangiert. Und jetzt bin ich wirklich zu 100% hier. Ich treffe neue Menschen, ich erlebe unbeschreibliche Dinge, ich finde mich in dieser grandiosen Stadt zurecht und werde zu einem Teil von ihr. Hier ist alles lauter, bunter und aufregender. Wenn man es genau nimmt, erinnert mich diese Stadt sehr an dich. Vielleicht macht es das erträglicher. Du bist jeden Tag um mich herum. Und gleichzeitig bin ich frei. Ich kann tun, was immer ich will. (Zumindest fast. Dich anrufen kann ich nicht.) Aber du verstehst schon, was ich meine. Ich denke viel an dich, Anja. Aber ich merke langsam, dass es an der Zeit ist, dich auch aus meinen Gedanken gehen zu lassen.
Aber noch liebe ich dich.
Julian
Ich lege den Brief zur Seite und starre aus dem Fenster. Wie ist es möglich, dass ich mir die Realität so hingebogen habe, wie ich sie haben wollte, ohne es wirklich zu bemerken? Seit ich denken kann, verdrehe ich die Realität so lange, bis ich sie mag. Solange, bis ich sie schön finde und besser ertragen kann.
Ich habe neulich einen Artikel gelesen, in dem es darum ging, dass alle Menschen lügen. Oft. Und meistens belügen sie sich selbst. Es hieß, das wäre ein wichtiger Mechanismus, um mit der Vergangenheit umgehen zu können. Es hieß, wir würden Situationen so abändern, dass wir mit unseren Entscheidungen besser leben könnten. Ich habe innerlich nur den Kopf geschüttelt, weil ich felsenfest davon überzeugt war, nicht zu dieser bemitleidenswerten Gruppe zu gehören. Die Wahrheit ist, ich bin die heimliche Anführerin. Ich bin die Königin. Und ich habe es bis heute nicht gesehen.
Und der Grund, warum ich mich letzten Endes für Tobias entscheiden wollte, war einzig und allein der, dass ich dann besser mit mir leben könnte. Wenn ich mich gegen das, was ich eigentlich will, entscheide, wäre es so, als würde ich meine Fehltritte damit irgendwie wieder gut machen.
Denn eigentlich will ich Julian. Und jetzt wo ich feststelle, dass wir die vergangenen Jahre beide damit beschäftigt waren, den jeweils anderen abzuschreiben und zu vergessen, begreife ich, dass es eigentlich nie um den Sex ging. Klar, der Sex war fantastisch. Aber der Sex war nur eine passende Einleitung. Er war eine Fassade, hinter der ich meine Liebe verstecken konnte.
Ich seufze und krame nach meinem Handy. Fast acht Uhr. Und damit ist es an der Zeit, zu kündigen. Ich betrachte mich kurz im Spiegel, dann steige ich aus dem Auto und betrete wenig später die karge Eingangshalle. Ich steige in den Aufzug und drücke die acht.
Kapitel 35
Ich reiche der Maklerin zwei Wohnungsschlüssel und zwei für den Briefkasten.
„Wo ist der dritte Schlüssel?“
„Steht das nicht bei Ihnen in den Akten?“, frage ich gespielt unwissend. Ich kann ja schlecht sagen, oh, der hängt vermutlich an Julians Schlüsselbund und der ist mit ihm in New York. „Ich hatte einen verloren und das der ehemaligen Hausverwaltung auch gleich gemeldet“, improvisiere ich und schaue so unschuldig ich kann. „Ich wusste nicht, dass ich Ihnen das noch einmal mitteilen muss.“
„Was soll’s, solche Dinge gehen oft schief,
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