434 Tage
ich es heute gesagt. Du kannst dir sicher denken, wie er reagiert hat. Blabla, wie konntest du, blabla, das war ja nicht anders zu erwarten, blabla, du ziehst eben nichts durch, gibst immer auf, blabla, ich dachte, du hättest dich wirklich geändert, blabla, ich bin sehr enttäuscht von dir. Blödes Arschloch.
Und ja, es hat mich getroffen, aber nicht so sehr, wie ich dachte, dass es mich treffen würde. Na, jedenfalls war es das jetzt mit dem Jura-Studium. Kommende Woche bin ich für zwei Wochen in München und werde mich exmatrikulieren. Dann ist es wirklich vorbei.
München. Das ist das Stichwort, bei dem ich mich augenblicklich übergeben könnte. Was, wenn ich dich treffe? Irgendwie hoffe ich das. In meiner Vorstellung laufe ich dir rein zufällig und ganz ungezwungen über den Weg. Dann könnte ich dich fragen, wie es dir geht, ob du an mich denkst. Ob es da vielleicht schon einen anderen gibt. Ich könnte dir ins Gesicht schlagen oder dich anspucken. Dich anschreien. Oder küssen. Genau das ist der Punkt. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich dich sehe. Vielleicht wäre ich zurückhaltend höflich. Oder aber ich raste aus und schlage dich nieder. Es ist vielleicht besser, ich sehe dich nicht. Besser für dich und besser für mich. Die Version meiner selbst, die dich schlagen will, kann ich zwar verstehen, aber ich mag sie nicht so wirklich. Auch, wenn du es eigentlich verdient hättest. Du wirst das nie wissen, aber es hat mich noch nie jemand so verletzt wie du. Ich habe es zwar überlebt, aber ich bin wie ein halbtoter Zombie durch die Straßen getrottet und manchmal hatte ich den innigen Wunsch, einfach vor ein Auto zu laufen, nur um irgendetwas zu spüren. Schmerzen von außen und nicht die immer gleiche Leere im Inneren.
Das Beste wird sein, ich bringe einfach den Jura-Albtraum hinter mich und haue wieder ab. Zurück nach New York. Zurück zu einem neuen Leben. Zu meinem neuen Leben. Neuen Freunden und neuen Richtungen. In drei Wochen schaue ich mir ein College für Kunst und Design an. Claire meint, dass mir das gefallen könnte. Ein Freund von ihr studiert dort.
Erst dachte ich, ich würde einfach nach München zurückgehen. Aber da ist niemand mehr. Und wenn ich an München denke, tut es nur weh. Die Wahrheit ist, ich will mich gar nicht erinnern. Ich will vergessen. So, als hätte es dich nie gegeben. Denn was man nie hatte, kann man nicht vermissen.
Vielleicht haben diese ganzen Esoteriker ja recht. Vielleicht sollte man einfach loslassen (was immer das genau bedeuten mag). Man sollte sehen, wo einen das Leben hinbringt, wenn man sich mal nicht quer stellt. Nichts planen, einfach leben. Einfach einmal keine Angst haben. Sich nicht fragen, ob man das Richtige tut. Denn wenn man es genau nimmt, habe ich jetzt zwei Jahre lang versucht, das Richtige zu tun. Und was hatte ich davon? Das Falsche. Und das habe ich wirklich lange hin und her überlegt. Hätte ich mir auch sparen können.
In drei Tagen steige ich also ins Flugzeug. Gott, ich würde dich so gerne sehen. Aber ich glaube, wenn ich dich nicht umbringen würde, dann würde es mich umbringen. Alle Gedanken, die ich so schön weit weg geschoben habe, würden alle auf einmal über mich hereinbrechen. Und sie würden mich langsam ersticken.
So. Eine Ära geht zu Ende. Ich bin weder Hochstapler noch Jurist. Und ich bin nicht mehr mit dir zusammen. Ich lebe seit fast drei Monaten in New York, einer Stadt, die mich erdrückt und inspiriert, die mir Angst macht und die mich bis ins Mark beeindruckt. Ich wünschte, ich könnte dir davon erzählen. Ich wünschte, es würde dich interessieren. Und ich wünschte, ich könnte einen weiteren Lebensabschnitt mit dir teilen. Aber das wolltest du nicht. Und ob mir das nun passt oder nicht, ich muss es akzeptieren. Wir beide sind Geschichte. Und ich hoffe, dass ich unsere Geschichte irgendwann einmal aus der Distanz betrachten kann, ohne dass es mir dreckig dabei geht.
Es ist fast vier. Ich bin mit Danny und Claire verabredet und schon spät dran. Ich liebe dich.
Ich lege den Brief zur Seite und greife nach der kleinen Muschel, die nach so vielen Jahren endlich wieder da ist, wo sie hingehört. Zwischen meinen Fingerkuppen spüre ich viele winzige Rillen. Dieses Gefühl habe ich vermisst.
Und in diesem Augenblick frage ich mich, was gewesen wäre, wenn Julian diese Briefe tatsächlich abgeschickt hätte. Zugegeben, verdient hätte ich sie nicht. Aber vielleicht wäre alles anders gekommen.
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