434 Tage
dass ich eine andere habe. Oder, dass ich eine kennengelernt habe. Ich habe Kai gefragt, ob er weiß, wie du es aufgefasst hast, aber er wusste es nicht. Wir sind uns in manchen Punkten wirklich ähnlich, du und ich. Wir zeigen niemandem, wie es uns geht. Nicht einmal denen, die uns wirklich nahe stehen. Ich habe Kai nichts erzählt. Kein Wort. Er denkt, ich habe das mit dir gut weggesteckt. So, als könnte man das einfach so. Als wäre es ganz leicht, fünf Jahre mal eben aus dem Gedächtnis zu löschen. Die ganzen Erinnerungen und die Gefühle. Ich muss zugeben, dass ich gerne eine Lösch-Funktion für dich hätte. Ich würde dich auf der Stelle löschen. Dich und alles, was ich mit dir verbinde. Jede Erinnerung, jedes Gefühl, alles. Ich wäre eher bereit, alles zu vergessen, als dieses taube Gefühl noch länger zu ertragen. Alles ist so gut und so neu und aufregend. Aber ich kann es nicht genießen. Nicht wirklich. Weil es sich anfühlt, als hättest du dich in meinem Hirn eingenistet. Du bist wie eine Krankheit, die mich nicht mehr loslässt. Wie der Virus, der seinen Wirt gefunden hat.
Und andererseits fürchte ich mich vor dem Tag, an dem ich nicht mehr an dich denke, weil es dann wirklich vorbei sein wird. Endgültig. Und ich weiß nicht, was dann ist, weil ich alles auf die eine oder andere Art mit dir verbinde. Ich habe Angst davor, dich nicht mehr zu lieben. Dann kommt irgendwann eine andere. Aber ich will gar keine andere. Keine Ahnung. Diese blöden Briefe zum Beispiel. Warum schreibe ich sie überhaupt? Warum schütte ich jemandem mein Herz aus, der es nie wissen wird. Jemandem, den ich meinen persönlichen Virus nenne?
Du hast mich vor fast sechs Monaten verlassen. Du hast mir einen Brief geschrieben. Einen Brief. Du hattest noch nicht einmal den Anstand, unsere Beziehung von Angesicht zu Angesicht zu beenden. Du hast den Weg gewählt, bei dem ich nicht widersprechen konnte. Mich nicht verteidigen, nicht kämpfen.
War es das, was du eigentlich wolltest? Das würde zu dir passen. Du mit deinem verklärten, naiven Weltbild. So wie ich dich kenne, wolltest du eine Filmversion von mir. Den Mann, der alles stehen und liegen lässt und plötzlich mit Tränen in den Augen vor deiner Tür steht und dir sagt, dass er ohne dich nicht leben kann.
Blödsinn. Natürlich kann ich ohne dich leben. Ich konnte es vorher und ich kann es jetzt. Der Punkt ist, dass ich nicht ohne dich leben will. Und ob du es glaubst oder nicht, ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, ob ich nach Hause fliegen soll. Ich stand sogar schon vor einem Scheiß-Reisebüro. Und dann wurde es mir klar. Ich will solche Spielchen nicht. Ich will keine Frau, die diese überlebensgroßen Ansprüche an mich hat. Eine Frau, die mir nicht ins Gesicht sagen kann, dass es vorbei ist.
Du warst in meinen Augen immer so frei und furchtlos. Ich habe dich lange dafür bewundert. Und mit diesem Brief hat du mein Bild von dir zerstört. Du hast die Anja verraten, die ich geliebt habe. Du hast uns verraten. Und deswegen warst du es nicht wert, dass ich zurückfliege. Hättest du mir das gleiche am Telefon gesagt, wärst du es wert gewesen. Aber das hast du nicht.
Und deswegen bin ich geblieben. Ein Teil in mir ist froh, dass ich mich so entschieden habe. Denn hier bin ich frei und furchtlos. Ich bin offen. Ich bin der, der ich immer sein wollte. Nur manchmal, ganz selten, da merke ich, dass ich eigentlich nur eins vermisse. Und das bist du.
Weißt du, was ich mich manchmal frage? Wenn du mich nicht verlassen hättest, hätte ich das Jura-Studium dann trotzdem abgebrochen? Oder hätte ich das Praktikum durchgezogen? Vielleicht ist es nämlich so, dass ich nur deinetwegen darauf gekommen bin, was ich wirklich will (neben dir, aber das stand ja dann nicht mehr zur Debatte). Ich hatte Zeit über all das nachzudenken, was du geschrieben hast. Und durch deinen Brief habe ich begriffen, dass ich nicht mehr der bin, der ich sein will (auch, wenn du sicher nicht mit allem recht hattest, was du mir vorgeworfen hast). Ich hatte Zeit über alles nachzudenken. Also bleibt die Frage offen, ob ich den Kurs geändert hätte, wenn du mich nicht dazu gezwungen hättest. Keine Ahnung. Vielleicht wäre ich auch von ganz alleine darauf gekommen. Aber vielleicht habe ich es tatsächlich gebraucht, dass die Realität so über mir zusammenbricht. Wenn man es genau nimmt, hast du mir vielleicht sogar dabei geholfen, endlich wirklich meinen Weg zu gehen. Unabhängig von dem,
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