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44 - Waldröschen 03 - Der Fürst des Felsens

44 - Waldröschen 03 - Der Fürst des Felsens

Titel: 44 - Waldröschen 03 - Der Fürst des Felsens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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grollt die Flut noch immer. Wird sie sich beruhigen? Wird es einen neuen Sturm geben? So ist es im Leben, und so ist es im Herzen. Und wie vielen Genezarethseelen fehlt der Heiland, der seine Hand erhebt, den Sturm zu beschwören!“
    Das war ein verfängliches Thema; es wäre besser gewesen, nicht zu antworten; Flora fühlte das, aber dennoch fragte sie ganz unwillkürlich:
    „Bedürfen Sie eines solchen Heilandes?“
    „Ja, ich bedarf seiner!“ seufzte er.
    „Ich auch“, hauchte sie unbedachtsam.
    „Sie auch? Ja, ich habe es Ihnen sofort, als ich Sie zum ersten Mal erblickte, angesehen, daß Sie an einem Leid tragen, aber tragen Sie es allein? Haben Sie keinen Menschen, der Ihnen diese Last wenigstens zum Teil abnehmen könnte?“
    „Keinen!“ antwortete sie.
    „Das ist traurig. Stehen Sie so einsam in der Welt?“
    Flora hob den niedergesunkenen Blick zu ihm empor und antwortete:
    „So kennen Sie mich nicht?“
    „Sie meinen Ihren Namen? Denn Ihr Herz, Ihr Gemüt, Ihre Seele sind mir nicht unbekannt. Nein, ich kenne Sie nicht. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die Anhänger der gesellschaftlichen Neugierde sind. Ich stand allein in der Welt mit einem großen Kummer im Herzen. Der Gram vereinsamt den Menschen, ich zog mich zurück und suchte Trost und Frieden nur am Herzen der Natur. Da erschienen Sie mir. Es war, als ob der Glanz eines versöhnenden Gedankens mich umleuchte, und darum floh ich Sie nicht, wie ich andere fliehe. Ich sah Sie wieder und tat einen Blick in Ihr reines Wesen, einen Blick, der mir den verlorenen Glauben an die Menschheit brachte. Ich war glücklich in Ihrer Nähe, zum ersten Mal seit langer Zeit. Ich hätte vor Ihnen niederknieen und Ihnen sagen mögen, daß Sie meine Madonna sind, zu der ich beten möchte. Wenn ich hier auf Sie wartete, so fragte jede Faser meines Inneren, ob Sie auch kommen würden, und wenn Sie dann nahten, so war meine Seele ein einziges großes Dankgefühl. Sie sind meine Sonne geworden. Ich weiß, daß diese Sonne mir untergehen wird, aber ich werde trotzdem nicht in finstere Nacht versinken, denn den Wahrheitsstrahl Ihrer Augen werde ich nie vergessen, sie werden mir leuchten jetzt und immerdar; sie werden die Sterne sein, die meine Erinnerung erhellen und mich das Glück im Angedenken genießen lassen, das mir in der Wirklichkeit versagt ist. Ihre Seele ist mein geistiges Eigentum geworden, und etwas anderes als dies können Sie mir nicht sein. Darum habe ich nicht gefragt, wer und was Sie sind, darum habe ich Sie nicht um Ihren Namen gebeten, und darum habe ich mich nicht einmal erkundigt, wo Sie wohnen.“
    Er hatte sich in seiner Erregung erhoben, er stand vor ihr mit über der Brust gekreuzten Armen. Es sprühte aus seinen Augen keine versengende Liebesglut, seine Worte enthielten ja auch nicht eine Liebeserklärung im gewöhnlichen Sinn, aber es lag auf seinem Gesicht eine Helligkeit, eine Verklärung, deren Ursache nicht die Sonne sein konnte, eine Verklärung, die ihre Strahlen auch auf Flora warf. Ihr Herz bebte, und ihr Busen wogte. Sie hob das Auge zu ihm empor und erwiderte leise bebend:
    „Mir ging es ebenso.“
    Diese Worte durchzuckten ihn wie ein elektrischer Schlag.
    „Auch Ihnen ging es so?“ fragte er. „Mit wem? Sagen Sie, mit wem?“
    „Mit Ihnen“, hauchte sie.
    Da machte er eine Bewegung, als wolle er sich ihr zu Füßen stürzen, aber er beherrschte sich, wandte sich ab und sandte seinen umflorten Blick weit hinaus auf die See. Dann hob er den Arm und zeigte nach dem Meer.
    „Sehen Sie da draußen die englische Jacht, Señorita“, sagte er. „Sie kämpft mit den Wogen und wird doch die schützende Bucht erreichen. Ich aber habe keinen Hafen, ich habe keinen Vater, keine Mutter, weder Bruder noch Schwester, ich habe nicht einmal einen Namen, den ich tragen darf, ich bin verfemt und verflucht und darf es nicht wagen, die Hand nach einem Herzen auszustrecken, das mir gehören will. Ich bin wie der junge Adler, den die Alten aus dem Nest werfen, denn anderen gehören die Firnen und der Äther, er aber soll da unten im Abgrund jammervoll verschmachten. Und selbst wenn er nicht verdirbt, so sind ihm die Schwingen gebrochen, und er hockt einsam und verlassen zwischen den Felsen.“
    Das war nicht eine leere Tirade, sondern das waren schrille Schmerzensschreie, die aus der Tiefe einer gequälten Brust erschollen. Flora fühlte das, sie ahnte, daß sein Weh ein ungewöhnliches, wahres sei, und das Leid macht die Menschen

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