44 - Waldröschen 03 - Der Fürst des Felsens
Hand nach ihm ausstrecke. Darum dachte er daran, sein Testament zu machen, und daher ließ er den französischen Notar mit drei Zeugen rufen.
Von dem Augenblick an, in dem er erfahren hatte, daß er einen Sohn habe, war er froh gewesen, daß seine Tochter noch unverheiratet war. Von diesem Augenblick an hielt er sie von jeder Gesellschaft fern und suchte sie zu hindern, männliche Bekanntschaften zu machen. Ja, er ging noch weiter; er fragte sie, ob ihr Herz noch frei sei, und als sie dies bejahte, so bat er sie inständigst, die Selbständigkeit festzuhalten. Den Grund konnte sie nicht erfahren. Noch heute am Vormittag hatte er sie gebeten, ihr Herz zu wappnen und nicht an einen Mann zu denken.
„Ich kann dir den Grund noch nicht sagen“, hatte er gemeint, „aber du wirst ihn bald erfahren, zu bald vielleicht.“
An diese Worte dachte Flora, als sie jetzt die Höhe emporstieg. Es war ihr bisher sehr leicht gewesen, den Vater über diesen Punkt zu beruhigen, heute fragte sie sich, ob sie nicht im Begriff stehe, ungehorsam zu werden.
Seit einiger Zeit hielt sich ein Badegast hier auf, der sich keinem Menschen anschloß. Er schien weniger aus Gesundheitsrücksichten, als vielmehr um die See zu studieren, hier zu sein. Er saß halbe Tage lang auf der Höhe bei den Weichselbüschen und beobachtete die immer sich neu gebärdenden Wogen der See. Zuweilen öffnete er sein Skizzenbuch, um dies hehre Bild festzuhalten.
Da oben war sie ihm begegnet. Sie hatte auf derselben Bank gesessen, als er kam, und er hatte umkehren wollen, als er sie erblickte. Sie aber hatte ihm zugerufen, seinen Sitz einzunehmen, und war dann selbst gegangen. Später hatten sie sich wieder gesehen und darauf fast alle Tage, wenigstens auf einige Minuten. Sie hatte erfahren, daß er Maler sei, aber nicht nach seinem Namen gefragt. Sie hatten sich unterhalten über Kunst und Wissenschaft, über alles, was ein Prüfstein für die innere und äußere Bildung des Menschen ist, und sich gegenseitig achten gelernt, ohne einander zu kennen.
Er hatte ein schönes, offenes Gesicht, über das die Schwermut eines geheimen Leidens ausgebreitet lag. Das erweckte ihr Mitgefühl. Sie begann in seinen Zügen zu forschen; sie traf dabei oft sein Auge, das mit einem tiefen, klaren Blick auf ihr ruhte, Sie errötete, ihr Herz klopfte. Sie fühlte, daß dieser Mann ihr gefährlich sei und daß sie ihn meiden müsse, aber stets, wenn die Stunde kam, in der sie ihn oben auf der Höhe wußte, trieb es sie hinaus aus dem Fischerhaus und hinauf zu ihm.
So auch heute. Der Wunsch des Vaters, das Zimmer zu verlassen, machte es ihr leicht, dem Zug ihres Herzens zu folgen. Sie schritt dem Ort zu, der ihr so lieb geworden war. Der Vater ging dem Tod entgegen und ließ sie dann allein. War sie aber wirklich so allein? War es denn wirklich unmöglich, sich vor einer so traurigen Vereinsamung zu bewahren? Sich selbst und vielleicht auch das Herz? So dachte sie, und dabei schlug ihr Herz immer lebendiger.
Flora blieb stehen, legte die Hand auf den wogenden Busen und atmete tief auf. Es wurde mit einem Mal hell und klar in ihr. Sie liebte ihn! Sie, die Tochter eines Herzogs, diesen unbekannten Maler! Welch ein Gedanke!
Flora fragte sich, ob sie zurückkehren solle, und doch schritt ihr Fuß vorwärts; sie zitterte vor der Begegnung, und doch sah sie ihn bereits vor sich. Er hatte ihr Kommen bemerkt und sich vom Sitz erhoben, um ihr einige Schritte entgegenzugehen. Er grüßte sie ehrfurchtsvoll; er bemerkte die Röte ihrer Wangen, und da er diese der Anstrengung des Weges zuschrieb, sagte er:
„Sie echauffieren sich, Señorita, und das ist bei dieser scharfen Seeluft nicht geraten. Hüllen Sie sich in Ihre Mantille und nehmen Sie Platz.“
Er gab ihr den seidenen Umhang über den Kopf und führte sie zum Sitz. Sie hatte ihn nur mit einer Verneigung begrüßt; es war ihr unmöglich, zu sprechen. Auch er saß neben ihr und hatte lange Zeit den Blick wortlos auf die See gerichtet. Was dachte er? Auf seinen Zügen war kein Wechsel der Gedanken geschrieben, aber seine schweren, fast halb geschlossenen Augenlider ließen erraten, daß die gegenwärtige Stimmung seines Inneren keine glückliche sei.
Endlich ließ er das Auge von der See hinweg auf seine schöne Nachbarin gleiten und sagte mit leiser, vibrierender Stimme, aus der sich auf große innere Erregung schließen ließ:
„Sehen Sie diese Wogen, Señorita? Vorgestern war die See ruhig, gestern gab es Sturm, und heute
Weitere Kostenlose Bücher