44 - Waldröschen 03 - Der Fürst des Felsens
Schriftstück enthält?“ fragte er.
„Ja“, antwortete sie leise.
„Was ist es?“
„Dein – dein – o Papa, ich mag das Wort gar nicht aussprechen!“
„Meinst du mein Testament, Flora?“
„Ja, mein Vater“, antwortete sie, jetzt bereits laut schluchzend.
„Du hast recht geraten“, sagte er, „aber weine nicht! Man kann an sein Ende denken, ohne den Tod nahe zu wissen. Will es Gott, so wirst du mich noch lange nicht verlieren, aber ich habe gefühlt, daß es meine Pflicht ist, an die Zukunft zu denken und meine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.“
Sein Husten unterbrach ihn und übertäubte auch das leise Weinen der Tochter, dann fuhr er fort:
„Dieses Testament lege ich in deine Hände nieder, Flora. Ein Duplikat davon liegt bei dem Notar, der es angefertigt hat. Schwöre mir, daß du nach meinem Tode alle darin getroffenen Bestimmungen erfüllen wirst. Willst du?“
„Papa“, schluchzte sie, „es bedarf des Schwures nicht, aber wenn es dich beruhigt, so will ich hiermit schwören, daß dein Wille bis in das kleinste befolgt werden soll.“
„Auch dann, wenn dieser Wille für dich ein harter, unväterlicher zu sein scheint?“
„Auch dann, Papa. Ich weiß, er wird nur hart scheinen, aber nicht hart sein. Du liebst dein Kind und wirst mich nicht unglücklich machen.“
„Ich danke dir! Und nun trockne deine Tränen, denn ich habe mit dir zu sprechen; ich will dir die Härten, die mein Testament für dich enthält, erklären; ich will dir erzählen, ich will – ja, mein Kind, dein Vater will dir – beichten!“
Flora sollte ihre Tränen trocknen, aber dies gelang ihr nicht. Ihr Vater wollte – beichten. Wie dieses Wort so fürchterlich klang! War er ein Verbrecher? Warum wollte er sich gerade vor seinem Kind demütigen?
Der Herzog wartete geduldig die lange Zeit, die seine Tochter brauchte, um wenigstens äußerlich ruhig zu erscheinen. Dann begann er:
„Mein Kind, ich habe eine große, schwere Sünde auf dem Gewissen. Du hast einen Bruder, ohne daß ich dir von ihm gesagt habe. Kannst du mir dies verzeihen?“
Anstatt zu erschrecken, blickte sie in freudigem Staunen zu ihm hin.
„Einen Bruder!“ sagte sie. „Ist das wahr, Papa?“
„Ja.“
„O, da habe ich dir ja nichts zu verzeihen! Du wirst deine weisen Gründe gehabt haben, seine Existenz geheim zu halten. Du erfreust mich mit dieser Nachricht außerordentlich, anstatt mich zu betrüben.“
„Deine Worte nehmen eine schwere Last von meiner Seele, Flora, aber ich muß leider bekennen, daß es nicht weise Gründe waren, die mir Schweigen auferlegten. Ich selbst wußte bis vor einiger Zeit von dem Dasein dieses Sohnes nichts. Er ist nicht ein Sohn deiner Mutter, er ist der Sohn einer anderen; er ward geboren, als deine Mutter bereits längst tot war; er ist ein illegitimes Kind.“
Es wurde dem Kranken schwer, dieses Bekenntnis auszusprechen, und Flora errötete, als ob sie selbst es von sich abgelegt hätte. Aber sie erkannte den Ernst dieser Mitternachtsstunde und sagte mild:
„Papa, er ist dessenungeachtet mein Bruder, und ich werde ihn herzlich lieben. Wo befindet er sich?“
„O, wenn ich das wüßte!“
„Du weißt es nicht? Aber wo ist seine Mutter, Papa?“
„Auch dieses habe ich nicht erfahren können; aber sie ist dir bekannt, mein Kind. Es ist nämlich Señorita Wilhelmi, die einst für kurze Zeit deine Erzieherin war.“
Das Gesicht Floras zeigte eine vollständige Bestürzung. Sie brauchte Zeit, sich von derselben zu erholen, dann sagte sie:
„Meine liebe, gute Wilhelmi? Mein Gott, was mag sie gelitten haben!“
„Ja“, nickte er voll Reue. „Und was mag sie noch leiden! Aber sie soll entschädigt werden. Vorher will ich dir alles erzählen. Höre, meine Tochter!“
Es mag einem Vater schwer werden, ein reines, unverdorbenes Kind einen Einblick in seine Jugendsünden tun zu lassen. Auch dem Herzog wurde es nicht leicht, aber er besiegte alle Zurückhaltung und erzählte Flora von seinem wüsten Leben, von Gasparino Cortejos, seines ehemaligen Haushofmeisters Verführungen, von jener Maskerade, während der er Señorita Wilhelmi zum ersten Mal gesehen hatte. Er erzählte ihr aufrichtig, wie er sie in sein Haus gelockt und mit jenem teuflischen Mittel überwunden habe. Er verschwieg ihr auch nicht, daß sie dann fortgegangen sei, ohne eine Unterstützung von ihm zu erhalten, so daß sie also, wie er noch jetzt meinte, ohne alle Subsistenzmittel gewesen sei. Auch über sein
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