45 - Waldröschen 04 - Verschollen
steckte. Sie nahm es an sich, bedeckte es mit ihrem Taschentuch, damit es nicht gesehen werde, und begab sich in ein Nebenzimmer, um den Inhalt kennenzulernen. Bereits nach kurzer Zeit stand sie wieder unter der Tür. Ihr schönes Angesicht war vor Zorn gerötet, und ihre blitzenden Augen suchten nach dem Obersten. Er stand mit Rittmeister von Palm, seinem Adjutanten von Branden und dem Leutnant Ravenow beisammen. Sie eilte mit raschen Schritten auf diese Gruppe zu, verbeugte sich kurz und energisch und sagte:
„Die Herren entschuldigen, daß ich störe. Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Herr Oberst.“
„Ich stehe zur Disposition, mein gnädiges Fräulein“, antwortete er mit einer sehr höflichen Verneigung, indem er eine Bewegung machte, mit ihr zur Seite zu treten.
„O bitte“, meinte sie, „wir können bleiben. Diese Herren dürfen anhören, was ich Ihnen zu sagen habe. Sie sind von Herrn Leutnant Helmers gefordert worden?“
„Leider ja“, antwortete er verlegen werdend.
„Und haben erklärt, daß Sie ihn nicht für satisfaktionsfähig halten?“
„Gnädiges Fräulein“, stotterte er, „ich muß Ihnen sagen, daß ich –“
„Schon gut!“ unterbrach sie ihn. „Man hat ein Ehrengericht beauftragt, sich mit diesem Fall zu befassen, und dieses hat sich gegen den Herrn Leutnant erklärt. Hier ist das Protokoll. Ich sage Ihnen, daß der Herr Leutnant des Königs Uniform trägt; er ist in Ehrensachen Ihnen gleichstehend; als Ritter zahlreicher Orden steht er hinter keinem Kavalier zurück, und ich sage Ihnen, daß ich Sie für einen Feigling halte, wenn Sie die Forderung zurückweisen. Beleidigungen eines Ehrenmannes müssen ebenso gezüchtigt werden, wie freche Überfälle von Damen, die man zum Gegenstand einer rohen Wette macht. Die Entscheidung Ihres Ehrenrates zeigt nicht, daß die betreffenden Richter sich mit der Ehre viel beschäftigen. Das sagt Ihnen eine Dame, Herr Oberst. Ich würde hier vor allen Zeugen das Protokoll zerreißen und Ihnen vor die Füße werfen, wenn ich es nicht als Beleg zu einer persönlichen Bitte an den König brauchte. Erklären Sie nicht noch heute abend dem Leutnant Helmers, daß sie sich ihm stellen wollen, so bin ich morgen beim König, um ihm zu sagen, welches Quantum von Mut die Obersten seiner Garde besitzen, und wie man mit einem Ehrenmann umzugehen wagt, der sich die bedeutendsten Verdienste erworben hat und von der Majestät dafür ausgezeichnet wurde. Es tut mir leid, daß ich nicht ein Mann bin, Herr Oberst, und also meine gegenwärtigen Worte nicht mit einer Pistole oder dem Degen bekräftigen kann. Adieu!“
Sie rauschte in stolzer Haltung davon und ließ die Herren in einer unbeschreiblichen Stimmung stehen. Der Oberst war kreidebleich geworden.
„Mir das! Mir!“ knirschte er. „Dieser Hund von Helmers hat ihr die Abschrift gegeben. Ich werde ihn niederschießen, wie einen tollen Hund!“
„Und mich“, meinte Ravenow finster, „meinte sie mit diesem ‚frech‘ und ‚roh‘. Oh, ich bedaure ebenso, daß sie kein Mann ist; ich würde sie zu züchtigen wissen. Aber ihr Schützling soll es mir büßen!“
„Eine verdammte Hexe ist sie“, brummte der Adjutant wohlgefällig. „Ich lasse mich vom Teufel holen, wenn sie nicht wirklich imstande ist, zum König zu gehen. Was werden Sie tun, Herr Oberst?“
„Was meinen Sie, Rittmeister? Sie sind Ehrenrat“, sagte der Oberst.
„Ich meine, daß es jetzt ganz unmöglich ist, beim Entschluß des Ehrengerichtes zu beharren. Es hat sich heute abend gezeigt, daß Helmers doch der Mann ist, dem man Genugtuung nicht verweigern kann. Und der Angriff dieser Dame ist so übermütig, daß er nur mit Blut beantwortet werden kann.“
„Das ist nun auch meine Meinung“, sagte der Oberst. „Nun ich mich überzeugt habe, daß ich meine Ehre nicht schädige, wenn ich mich mit Helmers auf die Mensur stelle, werde ich mich natürlich nicht länger weigern, ihm zu Diensten zu sein. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich mir alle Mühe geben werde, ihn zu töten.“
„Das überlassen Sie mir, Herr Oberst“, meinte Ravenow. „Ich habe ihn auf türkische Säbel gefordert, er kann mir nicht entgehen. Wir schlagen uns, bis einer von beiden tot oder wenigstens dienstunfähig ist.“
„Wann und wo ist das Rendezvous?“ fragte der Oberst.
„Das ist noch unbestimmt“, antwortete Ravenow. „Ich erwarte Ihre Entscheidung, da es jedenfalls am besten ist, daß beide Angelegenheiten neben- oder hintereinander
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