45 - Waldröschen 04 - Verschollen
Amy noch nicht sofort schlafen gegangen. Sie saß, mit dem Rücken nach der Tür gekehrt, am Tisch und blätterte in einem Album, welches die Bildnisse bekannter Personen enthielt. Auch das des Geliebten war dabei. Sie betrachtet die teuren Züge. Sie dachte sich in die Zeit zurück, in welcher sie ihn in Rodriganda zum ersten Mal gesehen und dann kennen und lieben gelernt hatte. Die Erinnerung drang so mächtig auf sie ein, daß die Gegenwart vor ihren Sinnen schwand. Sie hörte nicht ein leises, leises Geräusch, sie sah auch nicht, daß die Tür sich öffnete und daß die beiden Männer eintraten, welche soeben im Schlafzimmer ihres Vaters gewesen waren.
Beide winkten einander. Der eine zog abermals das Tuch hervor und befeuchtete es mit der Flüssigkeit aus seinem Fläschchen. Dann rückten sie näher an die in so tiefes Sinnen Versunkene heran. Plötzlich faßte der eine sie mit beiden Händen bei der Gurgel, so daß sie keinen Laut ausstoßen konnte, und der andere legte ihr das Tuch auf Mund und Nase. In kurzer Zeit lag sie in ihrem Stuhl wie eine Leiche.
„Wie schön!“ flüsterte der eine.
„Wir wollen ihr nicht weh tun“, meinte der andere. „Sie hat den Sohn des ‚Panthers‘ gerettet.“
Da fiel das Auge des ersten auf das Album. Er blätterte einen Augenblick lang darinnen und flüsterte dann:
„Sie hat diejenigen lieb, deren Bilder dies sind. Wollen wir ihr dieses Buch mitgeben?“
„Wird der ‚Panther‘ nicht zanken?“
„Muß er es denn wissen? Er darf sie ja gar nicht zu sehen bekommen.“
„So nimm es mit.“
Er schlich, während sein Gefährte das Album zu sich nahm, zur Tür hinaus und kam bald darauf mit einigen Indianern zurück. Von diesen Leuten wurden die Lichter verlöscht und die beiden Gefangenen vorsichtig emporgenommen, um sie fortzutragen. Der Weg ging den Korridor entlang und die Treppe hinab. Hier wurde die hintere Tür entriegelt, so daß man in den Hof gelangen konnte. Dort trat eine dunkle Gestalt zu ihnen. Es war der ‚Panther‘.
„Endlich!“ sagte er mit gedämpfter Stimme. „Ihr habt mich lange warten lassen. Leben die beiden noch?“
„Ja“, antwortete einer.
„Habt ihr die Schlüssel?“
„Hier sind sie.“
„Wie erfuhrt ihr, welches die Zimmer dieser beiden seien?“
„Ich lernte am Tag die Duenna kennen. Ich ging als Bettler her und sang dem Gesinde einige Lieder vor. Das Mädchen vernarrte sich in mich und gab mir Antwort auf alle meine Fragen.“
„Gut. Wißt ihr, wo die Kellertür ist?“
„Hier gleich neben der Treppe.“
„So schafft die beiden zur Stadt hinaus zu den Pferden und schickt mir die anderen her. Sie warten dort in der Ecke des Hofes. Aber wenn ihr euch unterwegs sehen oder gar ergreifen laßt, so ist es euer Tod.“
Sie gingen davon, die Gefangenen auf ihren Armen, und nach wenigen Augenblicken schlichen sich andere Gestalten herbei, fast dreißig an der Zahl. Sie traten in das Haus und zogen die Tür des Hofes wieder hinter sich zu, deren Riegel sie vorschoben, um ja von außen nicht zufälligerweise gestört zu werden.
Der ‚Panther‘ tappte sich zur Stelle, die ihm bezeichnet worden war, und fand die Tür. Sie war mit Eisen beschlagen und hatte ein Loch für einen großen Hohlschlüssel. Deshalb wußte er sogleich, welcher der richtige war, wählte ihn unter den anderen Schlüsseln aus, steckte ihn leise an und öffnete, ohne daß er ein Geräusch verursachte. Dann befahl er, noch immer mit leiser Stimme:
„Hier ist die offene Tür! Folgt mir die Stufen hinab. Die zwei letzten ziehen den Schlüssel ab und die Tür hinter sich heran. Auf der obersten Treppenstufe bleiben sie als Wache stehen. Die Lichter werden erst unten angebrannt.“
So geschah es. Als sich alle, außer den beiden Wachen, unten in dem Küchenkeller befanden, wurden einige kleine Laternen hervorgezogen und angebrannt. Nun konnte man das Terrain ganz leidlich überblicken.
Ein Stück weiter hinten in dem mit allerhand Speisewaren besetzten Keller gab es eine zweite Tür. Der ‚Panther‘ untersuchte das Schloß derselben, zog einen Schlüssel hervor, welcher paßte, und öffnete.
Jetzt befand man sich im Weinkeller, welcher einen großen Vorrat von Faßwein und ein noch größeres Flaschenlager zeigte. Keiner der Indianer machte Miene, eine der Flaschen anzurühren. Ganz im Hintergrund gab es nun eine dritte, kleinere Tür, welche aus dickem Eisen bestand. Auch hierzu fand sich der Schlüssel. Der ‚Panther‘ war das Schloß nicht
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