45 - Waldröschen 04 - Verschollen
hätte sie vor Schreck laut aufgeschrien, denn auf einem Schemel inmitten des engen, niederen Raumes saß zwar der Waldhüter, aber vor ihm auf dem Stuhl eine alte Frau, so häßlich, wie sie noch gar keine gesehen hatte. Sie wollte fliehen, aber Tombi hatte sie bereits bemerkt und winkte sie näher. Da drehte sich auch die Alte nach ihr um, blickte sie scharf an und sagte:
„Das ist sie! Diese Züge tragen fürstliches und gräfliches Gepräge. Wache über sie, mein Sohn! Ich aber will dem Unglück gebieten, von ihrem reinen Haupt fern zu bleiben!“
Sie trat zu Röschen, legte ihr die Hände wie segnend auf das schöne Lockenköpfchen, und während sich ihre Augen emporrichteten, bewegten sich ihre Lippen wie im Gebet. Das Mädchen hob die Wimpern leise und blickte verstohlen zu der Alten empor.
Und als sie dieselbe so warm und innig beten sah, war es ihr, als ob sie jetzt nicht mehr häßlich aussehe, sondern lieb und gut, wenn auch ein wenig recht sehr alt. Dann nahm die Frau die Hand wieder zurück, beugte sich freundlich herab und fragte:
„Fürchtest du dich vor mir?“
„Nein“, antwortete Röschen mit einem warmen Aufschlag ihres Auges.
„Das sollst du auch nicht, mein Kind. Merk' auf, was ich dir jetzt sage! Ich heiße Zarba und bin der Schutzgeist der Deinen, obgleich sie mich jetzt verkennen. Ich werde Euch erscheinen zu der Zeit, welche da ist für Euch die Stunde des Glücks, für Eure Widersacher aber die Stunde der Rache.“
Das waren für Röschen unverständliche Worte, aber sie gruben sich ihr tief in das kleine Herz hinein, und noch als sie die Hütte verließ, blieb sie am Gatterpförtchen stehen, um nachzudenken, was Zarba, der Schutzgeist, gemeint habe. Die Alte aber stand unter der Tür, beschattete mit der Hand ihre Augen und blickte dem Waldröschen mit dem Ausdruck eines Wohlwollens nach, welches den Zügen ihres tief ausgewitterten Gesichtes einen Abendschein jener Glorie gab, mit welcher einst die Sonne des Südens ihren glücklichen, damals noch unentwegten Lebensmorgen bestrahlte.
Und was hatte die einst so schöne Gitana auf das Haupt des Kindes herabgefleht? Wir können es uns denken und werden baldigst erfahren, daß ihr Gebet bei dem allmächtigen Lenker des Geschicks Erhörung fand.
DRITTES KAPITEL
Ein Gardeleutnant
Ich bin noch jung, doch fürcht' ich nicht
Des Lebens mächt'ge Wogen.
Es glänzt ein goldig helles Licht
An meines Himmels Bogen.
Das Leben gleicht dem Meer, dessen ruhelose Wogen sich ewig neu gebären. Millionen und Abermillionen wechselvoller Gestalten tauchen aus den Fluten auf, um für die Dauer eines kurzen Lebensaugenblickes auf der Oberfläche zu erscheinen und dann wieder zu verschwinden – für immer? Wer weiß es? Am Gestade steht der Beobachter und richtet tausend Fragen an das Schicksal, aber kein Wort tönt an sein Ohr. Das Geschick spricht und antwortet nicht mit Worten, sondern in Taten, die Entwicklung schreitet unaufhaltsam weiter, und der Sterbliche sieht sich verurteilt, in fast machtloser Geduld die Geburt der ersehnten Ereignisse abzuwarten. Keine Stunde, keine Minute, kein Augenblick läßt sich verfrühen, und keine Tat bringt eher Früchte, als es von den ewigen Gesetzen vorgeschrieben wurde.
Oft steht der Mensch vor einer scheinbar folgenschweren Begebenheit, aber Tage und Jahre verrinnen, und es scheint, als ob die vorhandenen Ursachen ihre Triebkraft verloren hätten. Es ist, als ob das Vergangene wirkungslos sei, als ob die geheimen Federn des Lebensmechanismus ihre Spannung verloren hätten. Kein Laut ist zu hören, keine Tat, kein Erfolg zu sehen, und der schwache Mensch möchte fast an der Gerechtigkeit der Vorsehung zweifeln. Aber die Gerechtigkeit geht rücksichtslos ihren gewaltigen und unerforschten Weg, und gerade dann, wenn man es am wenigsten denkt, greift sie mit zermalmender Faust in die Ereignisse ein und man erkennt mit staunender Bewunderung, daß tief am Grund des Meeres sich Fäden gesponnen haben, die nun an die Oberfläche treten, um sich zum Knoten zu schürzen, welchen zu lösen nun in die Macht des Menschen gegeben ist.
So war es auch mit den Schicksalen, deren Fäden in Schloß Rheinswalden zusammenliefen. Es vergingen Monate und Jahre, ohne daß man von den teuren Personen, welche hinaus in die weite Welt gegangen waren, etwas hörte. Sie waren und blieben verschollen. Man mußte schließlich annehmen, daß sie zu Grunde gegangen seien, und dies brachte eine tiefe, aufrichtige Trauer
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