47 Ronin: Der Roman zum Film (German Edition)
und sah die Fuchsfrau, die noch immer im Türrahmen saß und sie beide in stiller, aber mörderischer Eifersucht beobachtete.
Kai und Oishi waren irgendwann mitten in der Nacht über die Dejima-Brücke geflohen. Die Holländer hatten es nicht gewagt, ihnen zu folgen, aber Kai konnte noch immer die Drohungen hören, die sie hinter ihm her brüllten, die Schreie, die Flüche ...
Oishi hatte den Wachen, die am Kontrollpunkt auf dem Festland standen und sie aufhalten wollten, rasch irgendetwas zugerufen, das Kai nicht verstand. Die Wachen hatten sie durchgelassen und ihre Speere und Hakenbüchsen stattdessen auf die Insel gerichtet, nur für den Fall, dass irgendwelche Ausländer doch so verrückt waren, sie zu verfolgen.
Auf Oishi warteten zwei Pferde. Kai hievte sich selbst in den Sattel und ließ dem Pferd die Zügel schießen, denn er wusste, es würde dem von Oishi folgen. Sein Verstand, seine Identität, alles, was über seinen Überlebensinstinkt hinausging, schien fort zu sein, verloren in diesem Albtraum aus Käfigen und Labyrinthen, in denen er – er hatte keine Ahnung, wie lange eigentlich – festgehalten worden war. Zuerst schienen ihm selbst der Wind in seinem Gesicht und der Anblick des sternklaren Nachthimmels eine Halluzination zu sein.
War er frei ...?
Oder würde er erwachen und feststellen, dass er wieder einmal bewusstlos geschlagen worden war – oder noch schlimmer, spüren, wie ein Schwert durch seine Kehle fuhr oder ein
oni
ihm die Leber herausriss ...
Wer war der Mann, der vor ihm ritt? Ein Teil seines wahnsinnig gewordenen Verstandes, der beinahe bei lebendigem Leib begraben worden war, hatte Oishis Stimme erkannt, als dieser ihm Fremde den Namen Mikas zugerufen hatte. Aber wenn dieser Mann wirklich Oishi war, hatte dieser sich, soweit Kai hatte erkennen können, mindestens genauso verändert wie er selbst.
Oishi sprach nicht, als sie weiterritten, und für eine lange Weile gab es nichts in Kais Verstand, was einer Frage geschweige denn einem zusammenhängenden Gedanken auch nur nahe gekommen wäre. Der Nachthimmel verschwamm über ihm wie geschmolzenes Glas, er bewegte sich und veränderte seine Muster, während sich die Straße, auf der sie ritten, mit dem Land wand und krümmte.
Kai beobachtete den Himmel und versuchte, etwas zu erkennen, bis die zufälligen Bewegungen der Sterne ihn nicht mehr an die Schiffslaternen erinnerten, die er auf dem Meer gesehen hatte. Langsam begannen sie, sich zu den Konstellationen zu formieren, deren Formen und Geschichten er aus einem anderen Leben kannte. Einem Leben, in dem man ihm gesagt hatte, dass sie Führer seien und Wächter, die über die nächtlichen Reisen des Lebens wachten.
Dann sah er plötzlich den Mond, der sich hoch über die Hügel erhob, um den vor ihnen liegenden Weg zu erleuchten – wie die leuchtende Laterne einer Himmelsbotin, die zu ihm gekommen war, als er sich vor langer Zeit verloren geglaubt hatte. Sie hatte über ihn gewacht, ihn geführt ...
Mika-
hime
...
Mika
-hime ...
Mika
... Der Name erfüllte seinen Geist wie der Herzschlag seine Brust. Sein Verstand liebkoste das Wort mit einer Zärtlichkeit, deren Bedeutung er vergessen hatte. Ihr Name, ihr Gesicht wurden zum Zentrum seiner Erinnerungsfetzen, ließen seine Menschlichkeit aufs Neue erwachen und belebten sein Bewusstsein neu. Sie erhellten den Weg in die Menschlichkeit wie das Mondlicht die Straße vor ihm. Flüchtige Bilder seines früheren Lebens und der Sprache, die er einmal gesprochen hatte – bis die Holländer drohten, ihm die Zunge herauszuschneiden –, fügten sich wieder zu wirklichen Gedankengängen zusammen, wie die über den Himmel verteilten Sterne wieder zu Sternbildern geworden waren. Stück für Stück flickten die Erinnerungen an Mikas liebevolle Freundlichkeit die Fetzen seiner Vergangenheit wieder zusammen und verbanden sie mit einem hauchzarten Seidenfaden mit der Gegenwart.
Als der neue Tag heraufdämmerte, erinnerte er sich wieder daran, dass sein Name
Kai
lautete, nicht »
Half-bloed
«. Er erinnerte sich daran, wer er hätte sein sollen, wo er wirklich hingehörte, wie er an diesen Ort gelangt war, und auch daran, was er gewesen war, als jemand Oishi wie ein Stück Frischfleisch zu ihm in den Eisenkäfig geworfen hatte.
Oishi war ein besserer Kämpfer, als er erwartet hatte – wenigstens, wenn es um Leben und Tod ging.
Aber in so einer Situation galt das wohl für alle Männer
.
Kai warf einen Blick auf den Mann, der vor ihm ritt,
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