47 Ronin: Der Roman zum Film (German Edition)
Frühling herrschte. Nagasaki, die Stadt, vor der Dejima lag, befand sich auf Japans größter südlicher Insel, aber der Frühling würde sicher auch in Ako bald anbrechen.
Die nassen Lumpen, die einst eine abgelegte Jacke und die Hose eines Ausländers gewesen waren, klebten unangenehm an seinem Körper. Fäden und Fetzen der zerrissenen Kleidung schlugen gegen seine Haut, während er aufstand und ein paar Schritte ging, als bestünden sie aus einem ekelhaften Pilz. Aber er hatte keine Wahl, es sei denn, er wollte splitternackt gehen – doch egal was er tat, wenn Oishi auch nur die geringste Verachtung angesichts seiner Erscheinung zeigte, war Kai nicht sicher, ob er genug Selbstbeherrschung besaß, den Mann nicht gleich hier und jetzt umzubringen. Er rieb sich die Arme und hoffte, dass Oishi wenigstens ein Feuer gemacht und etwas zu essen gekocht hatte, während er gewartet hatte.
Oishi lag ausgestreckt im Gras neben den Pferden und war fest eingeschlafen. Kai hätte ihn am liebsten getreten. Stattdessen starrte er auf den anderen hinab. Jetzt hatte er die Gelegenheit, das zu tun, ohne ihn zu beleidigen, und sich anzusehen, wie sehr sich Oishi von dem Mann unterschied, an den er sich erinnerte. Sein Samuraihaarknoten, der immer so ordentlich gekämmt am Hinterkopf gebunden und dessen Spitze mit Minzöl auf der rasierten Kopfoberfläche befestigt gewesen war, war jetzt eine achtlos zusammengebundene Masse, die einfach nur aus dem Gesicht gestrichen war, sodass die Haare ihm nicht in die Stirn hingen. Die einst sauber rasierte Stelle war nicht nachgeschnitten worden, wahrscheinlich nicht, seit man Kai fortgeschickt hatte. Oishis einst feine Samuraikleidung aus Brokat und schwerer Seide war ebenfalls fort. Jetzt trug er nur einen einfachen Kimono und darüber gebundene
hakama
, die man aus Baumwolle oder gar Hanf gewoben hatte. Es war schwer zu sagen, welche Farbe sie ursprünglich gehabt hatten. Kein Familien-
mon
war auf dem Stoff zu sehen.
Oishi war ein Ronin geworden
.
Und doch gab es Ronin und Ronin. Kai hätte nicht erwartet, dass Oishi seinen früheren Stolz und seine Würde mit der Burg seines Lehnsherrn aufgegeben hatte. Er war der Letzte, von dem er vermutet hätte, dass er sich so vollständig aufgeben würde. Egal was er sonst über Oishi dachte, wenigstens hatte er geglaubt, dass Oishi Rückgrat besäße. Hatte der Schock über alles, was falsch gelaufen war, ihn so sehr verändert?
Oder gab es einen anderen Grund ...?
Oishi hatte Gewicht verloren, viel Gewicht. Wo die Sonne sie auf der Reise nach Nagasaki nicht verbrannt hatte, war seine Haut so blass wie die Haut eines Mannes, der lange Zeit krank gewesen war. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen. Und ihn in so einer verletzlichen Pose schlafen zu sehen, und sich nicht einmal zu rühren, als Kai herankam ... es war, als habe die letzte Nacht ihn auch das letzte Bisschen Energie gekostet, sodass er vor Erschöpfung einfach umgekippt war.
Angesichts dessen war Kai noch verwunderter, dass Oishi ihren Kampf in der Arena überlebt hatte. Er sah Blutflecken auf Oishis Kleidung, aber keine Anzeichen einer ernsthaften Verletzung. Etwas Stärke musste noch in ihm wohnen, ein Überbleibsel des Mannes, an den Kai sich erinnerte – eine Leidenschaft, die so intensiv brannte, dass Kai, obwohl er so schwach schien, nicht in der Lage gewesen war, ihn mit einem Schlag zu besiegen.
Kai beugte sich vor, um Oishi wachzurütteln und festzustellen, ob er wirklich nur schlief oder bewusstlos war. Als seine Hand sich um Oishis Arm schloss, tropfte kaltes Wasser aus seinem langen Haar und den durchnässten Kleidern.
Oishi öffnete die Augen, sprang auf die Füße und griff nach seinem Schwert. Dann taumelte er, als könne sein schlaftrunkenes Hirn seinen Reflexen nicht folgen.
Kai stand da, starrte ihn ausdruckslos an und ließ die Hände an den Seite hängen. Oishi starrte finster zurück. Für einen Augenblick sah er so aus, als glaube er, man habe ihn angespuckt. Kai beobachtete ihn dabei, wie er sich überlegte, ob er noch immer einem wildgewordenen Mörder gegenüberstand, oder ob Kai wirklich das Bisschen Verstand wiedererlangt hatte, das Oishi ihm zugestand.
Das
katana
und das Messer, das Kai seit der Flucht bei sich getragen hatte, lagen im Gras, wo er sie hatte fallen lassen. Er machte keine Anstalten, sie an sich zu nehmen. Er rührte sich nicht und wartete einfach ab.
Schließlich verschwand die Wachsamkeit aus Oishis Gesicht und seiner Haltung. Er
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