47 Ronin: Der Roman zum Film (German Edition)
und konnte ihn jetzt, wo der Tag heller wurde, deutlicher erkennen. Er war sich sicher, dass dieser Mann Oishi war. Aber er sah so anders aus, dass Kai ihn, selbst wenn er bei klarem Verstand gewesen wäre, als er ihn zum ersten Mal sah, nicht wiedererkannt hätte. Erst als er Mikas Namen in einem letzten verzweifelten Versuch, sein eigenes Leben zu retten, gerufen hatte, war Kai bewusst geworden, wer da vor ihm stand.
Aber vielleicht hatte gerade der Umstand, dass Kai ihn nicht hatte erkennen können, Oishi das Leben gerettet. Kai war am Ende seiner Kräfte gewesen, als er den
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endlich getötet hatte, doch man hatte ihm noch einen Feind vorgesetzt.
Er war des Tötens so müde
. Aber wenn er sofort gewusst hätte, dass es Oishi war – der Mann, der die Burg Ako kampflos an den Shogun und Kira übergeben hatte – hätte Oishi nicht einmal mehr Zeit für ein Gebet gehabt.
Aber was machte Oishi hier? Er war offenbar gekommen, um ihm zur Flucht zu verhelfen, also war er nicht von Kira zur Bestrafung auf die Insel der Holländer geschickt worden. Es schien, als sei der einzige Grund, den Oishi haben konnte, ein solches Risiko einzugehen, Kais Rettung. Aber wenn man die Ereignisse der Vergangenheit bedachte, an die er sich nun erinnerte, ergab das keinen Sinn.
Sonnenlicht glänzte auf einer Wasseroberfläche, und Kai erkannte, dass die Straße, der sie folgten, neben einem breiten Fluss verlaufen war. Vor ihm strömte ein Wasserfall von einer Felskuppe und bildete einen Teich in einem ausgehöhlten Felsbecken.
»Halt«, rief er Oishi zu und zügelte sein Pferd. Seine eigene Stimme, die Japanisch sprach, klang beinahe fremd in seinen Ohren.
Vor ihm hielt auch Oishi sein Pferd an und wandte sich um.
»Was?«, fragte er scharf. Auf seinem Gesicht zeigte sich sowohl Besorgnis als auch Unmut, als er sah, wie Kai abstieg. »Was ...?«, fragte er erneut.
»Wasser«, murmelte Kai und stieg die Böschung hinunter zum Wasser, als werde er davon unwiderstehlich angezogen. Er stank nach Tod und war blutüberströmt – und bis er sich davon befreit hatte, würde sich sein Körper nicht lebendig anfühlen.
Er watete in das Wasser, das sich unter dem Felsen gesammelt hatte. Es war eiskalt, aber das Gefühl von eisigem Wasser war schon immer Teil seiner Existenz gewesen, sodass er nicht innehielt. Schließlich stand er direkt unter dem Wasserfall und ließ dessen flüssige Reinheit auf sein Gesicht und die Haare herunter strömen und seine zerrissenen Kleider ausspülen, während er sich selbst mit den Händen säuberte. Weiter oben konnte er hören, wie Oishi nach ihm rief, als sei etwas sehr wichtig und könne nicht warten, bis er sich wenigstens die äußeren Anzeichen des lebenden Todes abgewaschen hatte, vor dem Oishi ihn bewahrt hatte.
Unter dem Wasserfall konnte er nicht hören, was Oishi sagte. Er wandte seinen Geist nach innen.
Atme ein ... Konzentriere dich ... Erinnere dich ... Atme aus ... Reinige dich ... Vergiss
.
Er konnte den Gedanken nicht ertragen, was Mika denken würde, wenn sie ihn jetzt so sehen könnte. Er konnte nicht einmal die Suche nach ihr beginnen, bis er sich den Dreck und die Schande darüber, was er um des Überlebens willen geworden war, so gut wie möglich abgewaschen hatte. Ob nun der Kern seines Geistes noch gesund war oder ob er ohne Hoffnung auf Erlösung zerstört war – das Wenigste, was er tun konnte, war nach ihr zu suchen und zu tun, was immer nötig war, um sie zu retten und sich an Kira zu rächen. Darüber hinaus war die Zukunft bedeutungslos. Das war sie immer gewesen.
Er stand lange unter dem Wasserfall, die Hände zum Gebet zusammengelegt – obwohl Zeit noch keine wirkliche Bedeutung für ihn hatte –, bis der Überlebensinstinkt seines zitternden Körpers nicht mehr zuließ, dass er sich auf seine Seele konzentrierte. Ihm war so kalt, dass die Eiseskälte des Wassers nicht mehr nur den Schmerz seiner nicht verheilten Wunden betäubte, sondern sich langsam in die knochentiefe Kälte des Erfrierens verwandelte.
Er watete wieder aus dem Teich heraus und stolperte auf die Uferböschung, bevor er das Bewusstsein verlor.
Die Luft war um einiges wärmer, als das Wasser es gewesen war, auch wenn der Wind ihn noch immer vor Kälte zittern ließ. Er war überrascht, wie hoch die Sonne inzwischen am Himmel geklettert war. Der Fluss war gesäumt von Bäumen und Büschen. Er war sogar noch überraschter, junges Laub und sprießende Blumen zu sehen – ihm wurde klar, dass bereits
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