47 Ronin: Der Roman zum Film (German Edition)
mich getötet?«
Kai starrte ihn verblüfft an und war überrascht, wie weit Oishis Gedanken in die Vergangenheit gewandert waren. Er dachte kurz über die Frage nach. »Hättet Ihr mich getötet?«
Oishi schaute weg und überlegte.
»Ja …«
»… Ja.«
Die Worte trafen mitten in der Luft aufeinander, als ihre Gedanken hier und jetzt durch etwas, das weit über gemeinsame Erinnerungen hinausging, geeint waren.
Sie lächelten beide und lachten dann. Sie teilten die Ironie und die Wertschätzung des gegenseitigen Respekts, der so lange auf sich hatte warten lassen.
Oishi schaute wieder auf Fürst Asanos Grab. »Ich sagte ihm, du wärst ein Dämon und er solle dich zum Sterben liegen lassen …« Die Belustigung auf seinem Gesicht wurde zu Verlegenheit, als er an die Weisheit seines Fürsten und seine eigene, viel zu rasche Urteilsbildung dachte. »Er sagte, du wärst nur ein verängstigter Junge.« Er schaute zu Boden. »Wie ich.«
Kai erwiderte seinen Blick und sah, dass Oishi voller Bedauern die Beschränkheit erkannte, die er damals und für so lange Zeit aufgrund seiner Arroganz nicht einsehen wollte.
Das war nicht länger der Fall. Oishi goss noch eine Schale Sake ein und hielt sie ihm hin. Kai nahm sie mit einer Verbeugung entgegen und trank. Als er das Schälchen absetzte, sah Oishi ihn mit einem Mitgefühl an, das ihn überraschte und verwirrte.
»Madame Asano ist wie ihr Vater«, sagte Oishi. »Sie wird Ako wieder groß machen.«
Kai begriff, dass dies keine zufällige Bemerkung war, sondern ein Versuch, ihn zu trösten. Das war ein weiteres Zeichen dafür, wie nah sie sich inzwischen standen, ohne es zu wissen. Oishi wusste nicht nur, was Kai alles erreicht und gelernt hatte – die Dinge, die ihn darauf vorbereitet hatten, von dieser Existenzebene in die nächste überzugehen –, sondern kannte auch das Opfer, das er gezwungen war zu bringen … das, was er am meisten liebte, und das ihn so lange am Leben gehalten hatte, wenn er nichts anderes gehabt hatte: seine Liebe zu Mika und ihre Liebe zu ihm.
Doch Mika war wieder die Tochter ihres Vaters, die Erbin des Hauses Asano und die offizielle Regentin von Ako. Sie hatte Pflichten und Gelübden Folge zu leisten, bevor ihre Zeit abgelaufen war.
»Ich weiß«, erwiderte Kai mit dem Anflug eines Lächelns.
»›Wer geboren wird, muss sterben. Wer sich kennenlernt, muss sich trennen …‹«, murmelte Oishi die vertrauten Zeilen. »Doch was wir im Leben teilen, kann uns niemand nehmen.« Er lächelte ebenfalls, und ihre Blicke trafen sich für einen kurzen, gemeinsamen Moment des
aware
.
Kai stellte seine Schale ab, und sein Lächeln wurde breiter. Ein letztes Mal verbeugte er sich vor Fürst Asanos Grab und murmelte ein letztes Lebewohl. Als er wieder aufstand, erlaubte sein Körper ihm unerwartet, sich in Würde zu erheben.
Überrascht atmete er probehalber tief durch. Zum ersten Mal, seit sie Kiras Festung verlassen hatten, bereute er es nicht. Manchmal während seiner Gebete war ein Teil der lähmenden Schmerzen in ihm verschwunden, und plötzlich begriff er, dass die Schmerzen nicht nur durch seinen verletzten Rücken verursacht worden waren.
Ein letztes Mal schaute Kai auf den Grabstein und erinnerte sich an den
tengu
-Wald – die gequälten Schreie der verlassenen Toten und die schimmernden Geister ihrer einsamen Seelen, unter denen sich auch die Seele seiner Mutter befand.
Der von Fürst Asano vor so langer Zeit aufgenommene, verirrte Junge aus dem Meer der Bäume war ebenfalls ein Geist gewesen, der nur durch
tengu
-Magie an seinen Körper gefesselt gewesen war. Sein ganzes Leben lang hatte er Angst gehabt, sich auf gelernte Erkenntnisse oder Lektionen, die ihn selbst betrafen, zu verlassen. Er hatte sogar Angst gehabt, das Geschenk der Ronin von Ako aus vollem Herzen anzunehmen, das diese ihm aus freien Stücken gemacht hatten – den in ihrem Blut geschriebenen Eid, der schwor, dass sie alle gleich und seine Brüder waren.
Und dennoch fühlte er sich jetzt, als er neben Fürst Asanos Grab aufstand und Oishi anschaute, so leicht, als wären seine Ketten alle mit dem Schmerz zusammen verschwunden. Doch er war nicht von seiner sterblichen Hülle getrennt worden – der Boden unter seinen Füßen war so fest wie immer.
Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich vollkommen lebendig … und als Mensch
… Es war, als wären die Ketten, die vor so langer Zeit aus seinen Ängsten und Zweifeln an seiner Identität und seiner
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