47 Ronin: Der Roman zum Film (German Edition)
mehr in Rage zu versetzen. Es zerriss die Seile und sprengte den Kreis der Reiter, als es wieder auf die Bäume zulief.
Kai sah, dass Yasuno das Tier verfolgte. Allein folgte er ihm in den Wald. Kai zögerte einen Augenblick, fluchte leise und wendete sein Pferd, um dem Verrückten und dem wildgewordenen Biest in den Wald zu folgen.
Als Kai die beiden erblickte, schloss Yasuno gerade seitlich zu dem
kirin
auf. Er beugte sich hinab und stieß sein Schwert kurz hinter dem gezackten Seitenhorn in den Rücken des Tiers.
Es war keine tödliche Wunde – und damit machte er die Kreatur nur noch wütender. Das
kirin
fuhr herum und stieß Yasuno mit einem Hieb seines riesigen Kopfs aus dem Sattel. Yasuno rappelte sich auf. Er taumelte rückwärts, als er sah, dass das
kirin
sich erneut zu ihm umdrehte und ihn mit gesenktem Kopf angriff.
Kai trieb sein Pferd in vollem Galopp auf das
kirin
zu. Er streckte sich und es gelang ihm, den Griff von Yasunos
katana
zu ergreifen. Die Hornzacken zerfetzten seinen Ärmel und schnitten in seinen Arm, als er das Schwert herausriss, doch er blieb im Sattel. Wenigstens war er nun bewaffnet. Dann zügelte er sein Ross mit einem wilden, trotzigen Schrei, um sich diesem lebendig gewordenen Albtraum entgegenzustellen.
Das
kirin
nahm die Herausforderung an. Es vergaß Yasuno und drehte sich um, um Kai anzugreifen.
Im letzten Moment vor ihrem Zusammenprall riss Kai sein Pferd zur Seite. Er stand in den Steigbügeln und lehnte sich dieses Mal noch weiter vor als zuvor. Er stieß Yasunos Schwert zwischen den messerscharfen Hornspitzen hindurch in den Nacken des Monsters. Er rammte es direkt in die verwundbare Stelle hinein, an der das Rückgrat des
kirin
mit seinem Kopf verbunden war.
Ein Schwall von verpestetem Blut ergoss sich über Kai und brannte wie Säure auf seiner Haut. Gefangen in der furchterregenden Euphorie, die einen an der Schwelle zwischen Leben und Tod überkam, spürte er den Schmerz kaum. Er hatte seit Jahren kein
katana
mehr benutzt, aber gespürt, wie seine tödliche Klinge tief in das knotige Rückgrat des
kirin
eingedrungen war und es durchtrennt hatte wie ein Blitz aus Stahl.
Mit Klingen aus Stahl ist man bereit, Götter zu töten
. Das hatte er von denselben Menschen gehört, die ihm erzählt hatten, wie sie ein
kirin
zur Strecke gebracht hatten. Nun wusste er, dass jedes einzelne Wort stimmte.
Kai riss an den Zügeln, sodass sich sein Pferd aufbäumte. Er wollte es von den spitzenbewehrten Hörnern wegbewegen, war allerdings nicht schnell genug: Das
kirin
warf seinen riesigen Kopf in schmerzerfüllter Rage zur Seite und bohrte Kai eines seiner Hörner in den Rücken. Kai stieß einen wilden Schrei aus, als eine der Zacken ihn unter dem Schulterblatt erwischte, aus dem Sattel hob und zu Boden warf. Er schlitterte weiter, bis er gegen einen Baum krachte. Er lag einfach nur da und rang nach Atem. Einer weiteren Attacke hatte er nichts entgegenzusetzen.
Aber in diesem Moment entfaltete die Wunde des Monsters ihre tödliche Wirkung. Das
kirin
taumelte und fiel auf die Knie, unfähig sich noch einmal aufzurappeln.
Kai war vor Schmerz schwindlig und übel, doch er zwang sich, aufzustehen. Blut durchtränkte den abgewetzten Stoff seines Kimonos, als er auf das gefallene
kirin
zutaumelte. Er wurde von einem Drang angetrieben, den er selbst nicht verstand.
Er blieb vor dem riesigen Kopf stehen und versuchte, im Blickfeld der drei Augenpaare zu bleiben. Das verrückte rote Glühen verschwand bereits. Während er zusah, wurden die Augen dunkel und friedvoll, und er blickte in die Tiefen einer uralten Weisheit, die hinter dem Schmerz verborgen lag.
Als sein Kopf herabsank, sah das
kirin
ihn schicksalsergeben an, ohne jeden Groll. Es war, als würde es sich an den Frieden erinnern, den es einmal gekannt hatte, vor langer Zeit – vielleicht in einem anderen Leben. Obwohl es sicher unter großen Schmerzen leiden musste, konnte Kai noch immer die Präsenz der edlen Kreatur spüren, die es einst gewesen war. Der Geist des
kirin
wurde wieder klar, als sein Blick sich trübte und der nahende Tod es von dem unaussprechlichen Fluch befreite, der ihm auferlegt worden war.
Sein Leiden würde bald ein Ende haben. Kai spürte, wie der Geist des Wesens ihn durchdrang, als er auf die endlose Spirale der Zeit zuschwebte, die sich immer weiter in die Zukunft wand. Von Mitleid und Bedauern erfüllt legte Kai seine zitternden Hände in einer zwecklosen Geste der Entschuldigung auf die
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