47 Ronin: Der Roman zum Film (German Edition)
sich überlappender Details, dass Kai schwer verletzt war. Sogar so schwer, dass er Hilfe brauchte, um zur Burg zurückzukehren. Aber er hatte die Jagdgesellschaft verlassen, bevor sie das Burgtor erreichte, und war in seine Hütte am Waldrand zurückgekehrt. Er hatte sich wie ein Tier davongestohlen, um alleine seine Wunden zu lecken, bis die Götter entschieden hatten, ob er leben oder sterben sollte.
Sie fragte sich mit schmerzendem Herz, ob der Verlust ihrer Kinderfreundschaft ihn glauben machte, dass er niemandem, nicht einmal ihrem Vater, völlig vertrauen konnte. So wie ihre Freundschaft sie dazu gebracht hatte, sich vehement gegen eine Heirat zu wehren, obwohl die meisten Frauen ihres Alters bereits Kinder hatten, die älter waren, als sie und Kai damals.
Aber würde Kai wirklich lieber sterben, als jemanden um Hilfe zu bitten?
Sie blickte in die ernsten Gesichter der jungen Frauen, die ihre Anweisungen erwarteten.
»Bei Nachteinbruch«, sagte sie leise, aber mit Nachdruck, und sie nickten.
Oishi stand wie eine Statue in der vertrauten Umgebung seines Heims. Seine Müdigkeit und seine Rüstung wogen so schwer, dass er nicht einmal mit seiner Frau Riku sprechen konnte, während sie die Teile löste und ihm eines nach dem anderen abnahm. Als er nun endlich zur Ruhe kommen konnte, fühlte er sich wie betäubt. Oishi war überwältigt von der Dringlichkeit und Gefahr der Jagd, die ihm mehr abverlangt hatte als sonst.
Er fragte sich, ob es sich so angefühlt hatte, ein Samurai, ein Mitglied des Kriegerstandes zu sein, damals, als Kriege noch an der Tagesordnung waren und Männer wie er das Ziel der Jagd waren. Wie hatten seine Vorfahren die monatelangen, jahrelangen Feldzüge ertragen, ohne zu wissen, wann der nächste Angriff auf sie lauerte und wann und ob sie ihre Lieben je wiedersehen würden? Über Generationen des Krieges hatten Samurai ein solches Leben gelebt – bis ihnen ein Feind ein plötzliches Ende bereitete. Oishi dankte den Göttern, dass er in einer Zeit des Friedens lebte.
Er fragte sich, wie Männer, die ihr ganzes Leben damit verbracht hatten, andere Männer umzubringen, um selbst am Leben zu bleiben, die Zeit und die Energie hatten aufbringen können, zu besseren Menschen zu werden, indem sie versuchten, nach den Tugenden des
bushidō
, des Kodex ethischen und moralischem Verhaltens, zu leben. Selbst in Friedenszeiten ...
Die unschöne Erinnerung an Yasuno und Kai – und die Wahrheit, wer von beiden wirklich das
kirin
getötet hatte – drängte sich, wie bereits auf der gesamten Heimreise, wieder in den Vordergrund seiner Gedanken.
Widerstreitende Gefühle zerrten an den ausgefransten Kanten seines Glaubens an Ehre und Gerechtigkeit. Yasuno hatte den Ruhm für sich beansprucht. Er hatte gelogen, indem er nicht die Wahrheit gesagt hatte, dass nicht er das
kirin
erlegt hatte, sondern das Halbblut. Oishi verstand, dass das ein harter Schlag für Yasunos Stolz gewesen war ... aber das entschuldigte keine Lüge.
Sollte er Yasuno damit konfrontieren? Er wollte nicht einen seiner besten Männer verlieren, indem Yasuno aus Scham
seppuku
beging, oder schlimmer noch, indem Yasuno sich gegen ihn stellte, und Unfrieden unter seinen Vertrauten stiftete, weil er sich weigerte, die Wahrheit zuzugeben.
Oishi sagte sich, dass die Zeiten, in denen ein Halbblut durch Fürst Asanos bloße Anerkennung seiner Tapferkeit Yasuno ebenbürtig werden konnte, seit mehr als hundert Jahren vorbei waren. Abgesehen davon hatte der Spurenleser noch nicht einmal protestiert. Ob er schwieg, weil er Angst hatte, dass Yasuno ihn umbringen würde, oder weil ihm klar war, dass es aussichtslos war, tat nichts zur Sache.
Yasuno hatte den Ruhm für sich beansprucht. Das war ein feiger und unehrenhafter Akt, den ein Samurai ihm niemals ungestraft durchgehen lassen durfte ... oder gar erlauben, dass er sich von seiner Schuld reinwusch.
Aber wenn weder Yasuno noch das Halbblut bereit waren, die Wahrheit zu sagen
...
Oishi war nicht einmal bewusst, dass er den Kopf geschüttelt hatte, bis Riku ihre Hand stützend auf seinen Arm legte, als glaube sie, ihm wäre schwindlig.
Heute zählten Blutlinien mehr als Blutvergießen. Alles hatte sich verändert. Und niemand war perfekt – warum sonst bräuchte man überhaupt Götter oder Verhaltensregeln?
Oishi ließ seine Augen über die wunderschönen Malereien auf den Wandschirmen gleiten. Über die Stützbalken seines Hauses, deren Holz im Laufe der Zeit immer dunkler wurde. Das
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