47 - Waldröschen 06 - Am Teich der Krokodile
durch diese Weigerung seine Begierde noch mehr entflammen und dadurch an Macht über ihn gewinnen werde.
Er zog ein Messer hervor und ergriff eines der reichen Meßgewänder.
„Seht diesen Diamant“, sagte er. „Er ist zweitausend Dollar wert. Ich schneide ihn sofort ab und schenke ihn Euch für einen einzigen Kuß.“
„Ich verkaufe meine Küsse nicht“, antwortete sie kalt.
„Und dennoch muß ich ihn haben!“
Bei diesen Worten sprang er, ehe sie es vermutete, auf sie zu. Er umarmte sie, drückte sie an sich und versuchte, mit seinem Mund ihre Lippen zu fangen. Lange wollte es ihm nicht gelingen, endlich aber doch. Es ließ sich schwer sagen, ob er durch seine körperliche Überlegenheit siegte, oder ob sie aus berechnender Schlauheit ihm seinen Wunsch erfüllte. Jedenfalls aber war dieser erzwungene Kuß ein so kurzer und unvollständiger, daß er das Verlangen des Paters nur noch mehr steigerte. Der alte Mann drückte das schöne Mädchen mit aller Gewalt an sich und rief:
„Bei Gott, dieser Kuß soll nicht der einzige gewesen sein!“
„Und doch!“ antwortete sie.
Er wußte nicht, wie es kam, aber während dieser Worte schleuderte sie ihn mit einer so kraftvollen Bewegung von sich, als ob sie die Stärke eines rüstigen und geübten Mannes besitze. Er taumelte und stürzte zu Boden, raffte sich jedoch wieder empor.
„Señorita, Ihr seid ein Engel, aber auch zugleich ein Ungeheuer!“ sagte er. „Gott hat Euch geschaffen, um glücklich zu machen; Ihr aber mit Eurer kalten, erbarmungslosen Seele seid wirklich imstande, einen zur Verzweiflung zu bringen!“
„Wirklich? Bin ich so kalt?“ fragte sie lächelnd.
„Ja, wie Eis!“
Sie dachte an den ‚Schwarzen Gerard‘, dem sie so gern die höchsten Zärtlichkeiten gewidmet hätte, und an den ‚Kleinen André‘, diesen, wenn auch nicht mehr jungen und auch nicht schönen, aber doch so braven Jäger, den sie freiwillig geküßt hatte, weil er ihr durch seine Aufopferungsfreudigkeit eine so rege Teilnahme eingeflößt hatte.
„Versucht einmal, dieses Eis zu schmelzen!“ sagte sie.
Dabei lag ein Lächeln um ihre Lippen, so stolz und doch auch wieder so verführerisch, daß er hätte den Verstand verlieren mögen.
„Ich habe es ja soeben versucht!“ sagte er.
„Aber nicht in der richtigen Weise, Señor. Mit Gewalt läßt sich keine Liebe erwecken. Merkt Euch das!“
„Soll ich Euch, der ich keinen Tag meines Lebens zu verschenken habe, etwa vierzehn Jahre dienen, wie Jakob um Rahel geworben hat?“
„O nein“, lachte sie. „Eine vierzehnjährige Werbung würde auch mir langweilig werden. Habt Ihr mir hier noch etwas zu zeigen?“
„Nein. Ihr habt bereits alles gesehen.“
„Soll wollen wir zurückkehren.“
„Und wann werde ich erfahren, ob Ihr die meine werden wollt?“
„Ich werde Euch die Antwort in drei Tagen geben.“
„Angenommen! Ich hoffe, daß Ihr nicht nein sagen werdet. Kommt also jetzt. Wir wollen gehen.“
Sie kehrten auf demselben Weg zurück, den sie gekommen waren, wobei der Pater natürlich alles wieder verschloß. Auch hierbei entwickelte Emilia die größte Aufmerksamkeit, so daß sie alles bemerkte, was sie bemerken wollte. Sie ging nicht wieder mit ihm nach seiner Wohnung, sondern begab sich nach derjenigen, welche ihr angewiesen worden war.
Als Pater Hilario sich allein befand, schritt er in seinem Zimmer unruhig auf und nieder. Er befand sich in der größten Aufregung.
„Vielleieicht habe ich heute die größte Dummheit meines Lebens begangen“, sagte er zu sich selbst. „Ich habe meine Geheimnisse verraten. Wird es mir bei ihr Nutzen bringen? Und wenn sie mir einen Korb gibt, wird sie verschweigen können, was sie gesehen und erfahren hat? Ich bin in dieses wunderschöne Mädchen in einer Weise verliebt, als ob ich erst achtzehn Jahre zählte; aber ich bin auch überzeugt, wird sie meine Frau, so werde ich der Beherrscher aller ihrer Anbeter sein, und wer weiß, was für Erfolge ich dann verzeichnen kann. Wären doch diese drei Tage schon vorüber!“
Da klopfte es von draußen leise an das Fenster. Er horchte auf, und als das Klopfen sich wiederholte, öffnete er und blickte hinaus. Er bemerkte die Gestalt eines Mannes, welcher draußen stand.
„Wer ist das?“ fragte er mit halb unterdrückter Stimme.
„Ich, Oheim“, antwortete es.
„Ah! Manfredo, bist du es?“
„Ja. Manche mir auf!“
„Sogleich!“
Er ging und öffnete, nicht den Haupteingang, sondern ein Nebenpförtchen
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