48 - Waldröschen 07 - Der Kaiser von Mexiko
meinte der Pater mit vorsichtiger Zurückhaltung; „ich möchte fast glauben, daß der Verfasser sich hier etwas zuviel Freiheit gelassen hat.“
Der Dicke warf einen forschenden Blick auf ihn und fragte:
„Das ist Eure wirkliche, rückhaltlose Meinung?“
„Muß es die nicht sein? Haben wir nicht nach den Regeln zu urteilen, welche uns von den Lehren und Satzungen der Heiligen Kirche vorgeschrieben werden?“
„Wollt Ihr Verstecken mit mir spielen, Pater Hilario?“ fragte der andere unter einem überlegenen Lächeln. „Was nennt Ihr Regeln, was sind Lehren und Satzungen?“
„Ich meine damit die heiligen Worte, welche aufbewahrt wurden, weil sie vom Geist Gottes eingegeben worden sind.“
„Zugegeben. Aber lebt dieser Geist nicht mehr? Hat er etwa seine Kraft verloren? Hat er es vorgezogen, auf die Menschen nicht mehr zu wirken? Er hat auf Abraham, Moses, die Richter und Propheten, auf die Apostel und Evangelisten gewirkt. Er hat die Kirchenväter und Päpste erleuchtet; er hat sogar aus Calvin, Luther und Zwingli gesprochen. Was versteht Ihr überhaupt unter diesem Geist Gottes?“
„Kann man von ihm, von Gott und Geist eine Definition geben?“
„Nein, aber man kann den Begriff umschreiben, man kann seine Meinung in Worten ausdrücken. Hervorragende Männer werden vom Geist Gottes erleuchtet. Die Menschheit entwickelt sich, und der Geist akkommodiert sich dem gegebenen Bildungszustand der Völker, wie sich der Lehrer dem seiner Schüler anbequemt. Die einfache Sprache, die kindliche Anschauung früherer Jahrhunderte ist überwunden. Was der Geist damals sagte, galt für die damals Lebenden, nicht für die später Kommenden. Darum ist jeder neue große Mann auch ein Reformator. Kann es also Satzungen und Regeln geben, welche für Jahrtausende Geltung haben dürfen oder gar müssen?“
„Nein.“
„Nun gut. Wollen wir nun annehmen, daß der Geist nur in einigen Auserlesenen tätig sei? Wohnt er nicht vielmehr in uns allen? Ich muß Euch da ganz bestimmt um Eure Meinung ersuchen.“
„Der Geist wohnt in jedem, das ist nicht zu bestreiten, obgleich er, je nach der vorgefundenen Materie, den einen mehr, den anderen weniger erleuchtet. Angenommen. Was von einzelnen Jahrhunderten, von einzelnen Nationen gilt, muß auch für jeden Menschen gelten. Der Geist bedient sich nicht einer Universalsprache, er spricht mit dem einzelnen in der Weise, welche demselben verständlich ist. Die Lehren und Regeln, welche er dem einen gibt, können nicht für einen anderen oder für alle passen. Auf diese Weise entwickeln sich individuelle Satzungen und Gesetze, welche, da sie vom Geist stammen, heiliger und unverletzlicher sind als alle die sogenannten Gesetze, welche die Herren Juristen zusammenstellen. Der Mensch, als vom Geist Gottes beeinflußt, ist nur sich selbst verantwortlich; er hat niemand Rechenschaft abzulegen über das, was er denkt, redet und tut. Das ist das Resultat der einzig richtigen Philosophie. Wir werden nicht das Reich der Freiheit erlangen, in welchem ein jeder sein eigener Richter und Gesetzgeber ist. Es gehören nur wenig Auserwählte zu demselben. Der Verfasser dieses Buches beweist, daß er einer dieser Auserwählten ist.“
Es war eine furchtbare Philosophie, welche dieser kleine, dicke Mensch entwickelte, eine Philosophie, welche allen Gesetzen Hohn sprach und einem jeden gerade das zu tun erlaubte, was ihm beliebt; es war die Philosophie der Bosheit, des Verderbens.
Er blickte scheinbar nachdenklich, und wie auf eine Fortsetzung seiner Rede sinnend, vor sich hin; aber diese Pause hatte doch nur den Zweck, die Wirkung zu taxieren, welche seine Worte auf den Pater gemacht hatten. Dann fragte er:
„Darf ich annehmen, daß Ihr mit diesen Deduktionen einverstanden seid?“
Der Pater zuckte die Achsel und antwortete:
„Im allgemeinen, ja; aber im besonderen nicht.“
„Wieso?“
„Es schmeichelt mir, daß ein jeder Mensch, also auch ich, vom Geist erleuchtet werden soll. Aber der Umstand, daß diese Erleuchtung je nach der Individualität eine verschiedene ist, läßt mich annehmen, daß zwei Menschen niemals vollständig, sondern nur im allgemeinen gleicher Meinung sein können. Ich muß mir daher die Individualität meines Denkens und Handelns vorbehalten.“
Ahnte der Pater vielleicht, daß der andere das Gespräch nicht ohne Absicht auf dieses Thema gebracht hatte? Ahnte er, daß derselbe damit irgend einen gefährlichen Zweck verfolge? Erriet er diesen Zweck und war er
Weitere Kostenlose Bücher