5. Die Rinucci Brüder: In Neapel verlor ich mein Herz
dir.“
Doch der Junge hörte nicht auf ihn. Er hatte einen Schluckauf bekommen und fing bis zur
Erschöpfung an zu schreien.
„Er ist übermüdet“, sagte Polly. „So spät geht er sonst nicht schlafen.“
„Soll ich ihn ins Bett bringen?“, fragte Ruggiero und wollte Matti hochheben.
Der Kleine wehrte sich jedoch mit allen Kräften. „Mummy!“, brüllte er, und immer wieder: „Mummy!“
„Er will zu dir, Polly“, erklärte Ruggiero.
„Nein, ich bin nicht seine Mutter“, erwiderte sie traurig. „Er will jetzt zu Freda.“ Sie kniete sich auf den Boden und versuchte, Matti in die Arme zu nehmen. Doch er schlug wie wild um sich, traf dabei Polly im Gesicht und schrie immer lauter: „Mummy! Mummy!“ Dann warf er sich auf den Boden und hörte nicht mehr auf, nach seiner Mutter zu schreien.
Schließlich gelang es Polly, ihn hochzuheben und sich mit ihm auf das Sofa zu setzen. Als sie ihn auf den Schoß nahm, rechnete sie damit, dass er sich wieder heftig wehren würde. Doch er barg das Gesicht an ihrer Schulter und schluchzte hilflos und verzweifelt.
Erschüttert über seinen Ausbruch, wiegte sie ihn hin und her. Der Kummer und Schmerz des Kindes zerrissen ihr beinah das Herz. Auf einmal brach sich etwas in ihr Bahn, und sie begann ebenfalls zu weinen. Dicke Tränen liefen ihr über die Wangen und vermischten sich mit Mattis.
„Es tut mir so leid, mein Liebling“, schluchzte sie. „Ich weiß ja, dass du nicht mich meinst.“ „Mummy“, wimmerte er.
„Ich wünschte, ich hätte ihr helfen können, dir zuliebe. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, aber …“ Sie verstummte und senkte den Kopf, sodass sie mit der Wange Mattis Haar streifte. In diesem Moment stieg Fredas Bild vor ihr auf. Die Krankheit hatte sie gezeichnet, ihre Schönheit war verblüht, und ihre Tage waren gezählt. Polly floss das Herz über vor Liebe und Mitgefühl. Vergessen waren die Jahre, während der ihre Cousine skrupellos ihr gutes Aussehen eingesetzt hatte, um ihre Ziele zu erreichen.
Die Familienmitglieder wechselten besorgte Blicke, und die Frauen wollten auf Polly zugehen, um sie zu trösten. Doch Ruggiero hielt sie mit einer Handbewegung auf. Dann kniete er sich vor Polly und legte ihr die Hand auf den Arm, während sie sich bemühte, die Emotionen in den Griff zu bekommen. „Polly, sieh mich an“, forderte er sie sanft auf.
Sie schüttelte nur den Kopf.
„Okay. Lass uns ihn ins Bett bringen. Komm.“ Er half ihr aufzustehen.
Während er sie aus dem Raum führte, nickte Hope ihm im Vorbeigehen anerkennend zu.
Oben auf dem Flur öffnete er Polly die Tür zu ihrem Zimmer und trat beiseite, damit sie mit dem Jungen auf dem Arm hineingehen konnte.
„Es ist alles in Ordnung“, stieß sie schluchzend hervor und setzte sich auf das Bett.
Ruggiero reichte ihr ein Papiertaschentuch, mit dem sie die Tränen wegwischte.
„Du weinst immer noch“, stellte er fest.
„Nein, tue ich nicht“, entgegnete sie und brach wieder in Tränen aus.
Schweigend nahm er neben ihr Platz, legte die Arme um sie und das Kind und beschloss zu warten, bis sie sich wieder gefangen hatte, egal, wie lange es dauerte.
9. KAPITEL
Nachdem Polly sich etwas beruhigt hatte, erklärte sie: „So, jetzt geht es wieder.“
Das bezweifelte Ruggiero allerdings und war sich darüber im Klaren, dass sie sich nur
zusammennahm. Dachte sie eigentlich jemals an sich selbst?
„Lass uns Matti ins Bett bringen“, sagte er jedoch nur.
Sie sah auf den Jungen hinab, der in ihren Armen lag und still vor sich hin weinte, und küsste ihn auf die Stirn.
„Komm, mein Liebling.“
„Wo ist sein Nachtzeug?“, fragte Ruggiero.
„In der obersten Schublade.“
Er zog alles heraus, was sie seiner Meinung nach brauchte, und reichte es ihr. Dann sah er ihr zu, wie sie Matti für die Nacht fertig machte.
„Eigentlich könntest du ihm den Schlafanzug anziehen“, schlug sie vor.
Ruggiero schüttelte den Kopf. „Nein, momentan möchte er von keinem Fremden angefasst werden. Er braucht dich, du bist ihm vertraut.“
Nachdem Polly den Kleinen hingelegt und zugedeckt hatte, fielen ihm sogleich die Augen zu. Kurz darauf war er eingeschlafen.
„Er sieht so lieb und brav aus“, stellte Ruggiero fest.
„Das ist er auch. Das war vorhin kein Wutanfall. Er war wirklich übermüdet, und er vermisst natürlich seine Mutter. Das ist völlig normal. Weil er sich nicht anders zu helfen wusste, hat er sein ganzes Elend hinausgeschrien. So sind
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