5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
Annas Eltern – die beiden werden nie darüber hinwegkommen. Der Tod ihrer Tochter hat ein Loch in ihr Leben gerissen. Und es ist nicht eines dieser Löcher, die sich mit der Zeit wieder schließen.
Ich steige aus dem Wagen und gehe ins Haus, werfe meine Tasche auf die Couch und steige die Treppe hinauf ins Bad. Mein Spiegelbild sieht mir matt entgegen. Meine langen, dunkelbraunen Haare hängen lustlos vom Kopf, meine hellblauen Augen wirken müde, und die Sommersprossen auf meiner Nase sind die einzige Farbe in meinem Gesicht.
»Ich kann jetzt einfach nicht schlafen«, sage ich zu mir selbst und mache das Licht aus. Dann gehe ich nach draußen, um mich im Schutz der Bäume meiner Kleidung zu entledigen.
Ein Kribbeln geht durch meinen Leib. Ich spüre, wie meine Haare lang werden und sich über meinen ganzen Körper schlängeln. Ein kurzes Ziehen und ein angenehmer Schmerz durchfahren mich, und schon im nächsten Augenblick bin ich ein Gepard.
Ich laufe los. Meine Sicht hat sich meinem Körper angepasst: Ich sehe perfekt im Dunkeln. Alles um mich herum ist still. Die Tiere verstecken sich, erkennen, dass ich ein gefährlicheres Raubtier bin, als sie es sind. Das Moos ist weich unter meinen Pfoten, und der unverwechselbare Geruch von Natur und Freiheit liegt mir in der Nase.
Nach drei Stunden ununterbrochenem Rennen laufe ich schließlich zurück nach Hause. Ich bin völlig ausgepowert, fühle mich aber gut, befreit von all dem, was mich heute bedrückt hat.
Ich gehe zu dem Baum, an dem ich meine Klamotten abgelegt habe, und ziehe mich an. Danach trete ich aus dem Schutz der Blätter und gehe auf mein Haus zu.
Keenan lehnt an der Haustür. Er sieht mir entgegen. Sein Blick ist nicht gerade erfreut. Genauso wenig wie meiner.
»Was machst du hier?«, frage ich barsch.
»Das sollte ich dich wohl lieber fragen.« Eine kurze Pause. Er erwartet, dass ich etwas sage. Doch ich schweige. »Du läufst nachts allein im Wald herum, während sich irgendwo da draußen ein Mörder befindet, der es auf junge Gestaltwandlermädchen abgesehen hat.« Die unterdrückte Wut ist nicht zu überhören.
»Ich bin kein Mädchen. Ich bin eine Frau«, sage ich ruhig. Die Zweideutigkeit meiner Antwort stört mich nicht im Geringsten. Gelassen, so als würde seine Anwesenheit nicht jede meiner Zellen in Aufruhr bringen, gehe ich auf ihn zu. Alles in mir spannt sich an bei seinem Anblick. Doch statt ihn zu küssen und mich an ihn zu schmiegen, was ich nur zu gerne tun würde, schiebe ich mich an ihm vorbei ins Haus. Natürlich folgt er mir.
Mein Haus, das aus fünf Zimmern besteht, wenn man die Speisekammer mitzählt, ist nicht besonders groß. Das Wohnzimmer ist der Hauptraum und gleichzeitig das größte Zimmer. Meine Küche mit dem damit verbundenen Esszimmer ist im Vergleich ziemlich klein. Und das war schon das Erdgeschoss. Folgt man aber der kleinen Treppe hinter dem Sofa, so kommt man in den ersten Stock, wo sich mein geräumiges Schlafzimmer und mein Badezimmer befinden. Alle Zimmer habe ich mit sehr viel Liebe und Geduld eingerichtet, als ich das Haus von Elias zum achtzehnten Geburtstag bekam. Jeder im Rudel bekommt sein eigenes Haus, wenn er volljährig wird; es signalisiert Selbstständigkeit und die Verantwortung, die man gegenüber dem Rudel hat. Jeder hat seine Aufgabe. Die zehn Krieger beschützen uns und kümmern sich um Eindringlinge, die unser Revier möglicherweise unbefugt betreten. Das Alphatier sorgt dafür, dass die Hierarchie respektiert wird, und trifft wichtige Entscheidungen. Die meisten Weibchen sind Hausfrauen und für den Nachwuchs verantwortlich. Die Männer dagegen suchen sich Jobs in der Stadt und sichern das regelmäßige Einkommen des Rudels. Da wir Partner in vielen großen Firmen und Aktiengesellschaften sind, ist das kein echtes Problem. An Geld mangelt es nicht. Miete fällt nicht an, Strom und Wasser werden vom gemeinsamen Einkommen bezahlt und das Einzige, wofür ich selbst sorgen muss, ist ein voller Kühlschrank, zu dem ich jetzt hingehe, um die Milch herauszunehmen.
Ich trinke aus der Packung, gierig und viel. Der lange Lauf hat mich durstig gemacht, und ich bin verschwitzt.
»Können wir jetzt vielleicht in Ruhe reden?« Sogar Keenans Bitte klingt wie ein Befehl.
»Worüber?«
»Über Anna. Über die Mörder und über dein nächtliches Herumstreunen.«
»Anna ist tot. Die Mörder laufen noch frei herum und mein nächtliches Herumstreunen geht dich einen Scheißdreck an!« Meine Stimme
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