5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
mir sagen möchtest?«
»Ja, ich …« Die Antwort kommt erst nach einem kurzen Zögern. Meine Nackenhaare stellen sich auf, und meine Raubkatze fängt an zu fauchen. Sie merkt, dass etwas nicht stimmt.
Ich drehe den Kopf zur Seite und schaue wieder Keenan an. »Los, sag schon.« Doch ich bin mir nicht sicher, ob ich die Antwort hören will.
»Ich werde das Rudel verlassen.«
Und ich habe das Gefühl, die Decke stürzt über mir ein.
»Es ist nicht für immer und auch nicht jetzt sofort … « Er möchte weiterreden, doch ich unterbreche ihn: »Und wo willst du hin?«
»In ein Leopardenrudel in Amerika. ›The invictum pardus‹. Ihr Alphatier ist ziemlich alt, sie können Unterstützung gebrauchen. Elias hat hier alles unter Kontrolle. Natürlich gehe ich erst, wenn die Mörder geschnappt sind und sich alles wieder normalisiert hat.«
»Okay, und weiter? Sie könnten Unterstützung gebrauchen … deswegen gehst du?«, bohre ich nach, weil ich einfach nicht verstehen kann, wieso. Wieso er mir das antut und wieso er mich so sehr hasst, dass er auf einen anderen Kontinent fliehen will.
»Na ja, und weil ich sehr viel lernen kann. Dort bin ich quasi das Alphatier und nicht der Gehilfe, so wie hier. Ich kann Erfahrungen sammeln, die irgendwann einmal wichtig sein könnten für unser Rudel. Außerdem hätten wir so ein paar Verbündete in Amerika, was auch nicht schlecht ist … Es wären ja auch nur zwei bis drei Jahre, dann wäre ihr neues Alphatier alt genug, um meinen Platz einzunehmen.«
Ich sehe ihn immer noch an, kann mich weder abwenden noch etwas sagen. Ich bin starr. Mir ist, als würde sich etwas Schweres auf meine Brust legen, und meine Gliedmaßen fühlen sich taub an. Das schmerzhafte Gewicht nimmt immer mehr zu, bis es kaum auszuhalten ist. Ich fühle, wie sich Tränen hinter meinen Augäpfeln sammeln und herauswollen, doch das gönne ich ihm nicht.
»Und was ist mit mir?« Jede Emotion ist aus meiner Stimme gewichen. Ich bin einfach nur leer im Kopf. Und im Herzen.
Keenan sieht mich nicht an. Starrt auf den Boden und sagt: »Ich komme im Sommer für einige Monate nach Hause. Sozusagen Urlaub.« Er versucht ein Lächeln zustande zu bringen, doch es erreicht seine Augen nicht.
Ich hole tief Luft und sage mit erstickter Stimme: »Ich möchte, dass du jetzt gehst.«
Überrascht sieht Keenan mich an, bewegt sich aber nicht von der Stelle.
»Ich möchte, dass du jetzt gehst«, sage ich lauter und ernster, schlucke die Tränen herunter. Blicke ihm unbeirrt in die Augen.
»Nein, ich … warum?«
»Wieso? Du fragst ernsthaft, warum?« Ich schreie. Beuge mich nach vorn, auf die Arme gestützt. Erschrocken stolpert er einen Schritt zurück.
Daraufhin springe ich auf und gehe aus dem Zimmer. Keenan folgt mir und greift nach meinem Arm. Doch bevor er mich wirklich erwischt, drehe ich mich um und haue ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Wie angewurzelt stehen wir uns beide gegenüber. Dann beugt Keenan sich vor und schnauzt wütend: »Es reicht.«
»Ja, du hast Recht. Es reicht. Ich kann nicht mehr. Und das will ich auch gar nicht.« Ich mache eine Pause. Hole tief Luft. Eingesperrt zwischen der Wand und Keenan bekomme ich keine Luft mehr. Und selbst in dieser Situation reagiert mein Körper mit Erregung auf ihn.
Er lehnt sich wieder zurück. Seine Augenbrauen sind wütend zusammengezogen, sein Körper angespannt. Alles an ihm strahlt Dominanz aus. Er erwartet Gehorsam.
Doch seine Augen sind traurig. Mir scheint, als würden sie nach mir rufen. Als würden sie nicht gehen wollen. Mich nicht verlassen wollen. Doch das bilde ich mir sicher nur ein.
Dann drehe ich mich um: »Wenn du nicht gehst, dann tue ich es.« Und schon renne ich los, ziehe mir nicht einmal Schuhe an. Ich reiße die Haustür auf und laufe einfach drauflos.
Selbst in unserer menschlichen Hülle sind wir so schnell wie in unserer tierischen. Deshalb dauert es nicht lange, bis ich mein Haus hinter mir gelassen habe und auf die Stille der Natur zustrebe. Ein paar Stunden und sehr viele Kilometer später lehne ich mich völlig erschöpft an einen Baum. Die Kleidung klebt mir nass am Körper. Ich sehe aus, als wäre ich in einen Platzregen geraten. Noch nie bin ich auf so langer Strecke so schnell gerannt.
Zitternd setze ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Nach ein paar Metern erreiche ich mein Ziel. Ein kleiner See, den ich schon von Weitem gerochen habe.
Ich gehe bis zu den Knien ins Wasser, das meine Hose durchtränkt und
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