5 Tage im Sommer
sah, wie Maxi an ihrem Ohr zupfte, fiel Sarah ein, dass sie vergessen hatte, der Kleinen ihr Antibiotikum zu geben. Sie sollte es zweimal am Tag einnehmen und hatte es bisher noch gar nicht bekommen. Sarah schimpfte mit sich selbst. So etwas durfte ihr nicht passieren. Sie musste sich zusammenreißen, musste gut für die Kinder ihrer Tochter sorgen. Behutsam schaukelte sie Maxi auf der Hüfte und sang »Leuchte, leuchte, kleiner Stern«, während der Kopierer Emilys Bild ausspuckte: VERMISST VERMISST VERMISST.
Das erste Plakat hängte sie gleich im Copy-Shop auf, dann eins bei Ricky’s Market und zwei weitere an den benachbarten Läden. Zwei am Stop & Shop , eins in jedem Laden des Einkaufskomplexes und eins an der Drive-in-Bank gegenüber dem Parkplatz. Überall tummelten sich bereits Leute, die frühmorgens einkauften.
Die fünfzig Kopien waren schneller weg, als sie dachte. Als sie die Commons hinter sich hatte, waren nur noch einige wenige übrig. Sie fuhr zum Deer-Crossing-Einkaufszentrum und brachte die übrigen Plakate dort an. Es war erst halb elf, als sie fertig war.
Als Sarah gerade daheim in die Garage fuhr, schlief Maxi ein. Das Baby war erschöpft, und Sarah beschloss, es im Auto schlafen zu lassen. Wills Mietwagen parkte draußen, und wenn sie das Haus mit Maxi betrat, würden ihre Stimmen die Kleine bestimmt aufwecken.
Sarah ging durch die Abstellkammer hinein und ließ die Außentür offen, um Maxi zu hören, wenn sie aufwachte. Sie wollte so dicht an der Garage nicht laut rufen, also schlich sie leise hinein. Es war niemand zu sehen. Sie sah überall nach. Niemand. Vielleicht hatte Barbara die Jungen mit zu sich nach Hause genommen. Hektisch wählte Sarah Barbaras Nummer. Barbara antwortete sofort: »Will ist zurückgekommen. Wusste gar nicht, dass er auf dem Cape war. Er sah nicht gut aus, Sarah.«
»Weißt du, wo sie jetzt sind?«
»Keine Ahnung. Er hat mich gefragt, wo du bist. Was ist denn eigentlich los?«
»Ich erklär’s dir später. Nimm’s bitte nicht persönlich. Heute ist nicht unser bester Tag.«
»Dabei hat er doch gerade eben erst begonnen …«
Sarah bedankte sich bei Barbara und legte auf.
Der Strand. Vielleicht hatte er sie zum Schwimmen mitgenommen.
Sie stieß die Verandatür auf, eilte die Treppen hinab, durch das Wäldchen zu ihrem Privatstrand.
Sie hatte fast richtig geraten. Will und die Jungen waren am Strand, jedoch nicht im Wasser.
Will stand vor den Jungen, den Rücken zum Ufer. Sie übten Aikido. Will bewegte sich mit kraftvoller Anmut und war so konzentriert, dass er Sarah gar nicht bemerkte. Die Bewegungen der Jungen spiegelten die seinen. Die langsamen Drehungen, das plötzliche Ausstrecken eines Arms, das sanfte Absenken. Dann wieder dieselben Bewegungen in die andere Richtung, die Blicke nach vorn gerichtet, auf nichts reagierend. Ihre Kontrolle war atemberaubend. Sie waren wie Schwalben, die sich auf einem unsichtbaren Luftstrom bewegten. Etwas Schöneres hatte Sarah nur selten gesehen, und sie wusste, dass sie diesen Augenblick nie vergessen würde. Alle drei wirkten leicht wie Federn, schienen aber gleichzeitig vor Kraft zu bersten.
Als die Bewegungsfolge zum Abschluss kam, fiel Wills Blick kurz auf Sarah. Er nickte und fuhr dann fort.
»Haltet die Balance«, forderte er seine Söhne auf. »Ihr müsst eins mit euch selbst sein.«
Die Jungen standen einander gegenüber, die Beine gespreizt, sodass sich ihre Füße in den Sand gruben. Sie hielten die Hände gegeneinander gepresst, und abwechselnd lehnte sich einer zum anderen herüber. Sam versuchte, David umzustoßen, und reagierte leicht unwillig, als sich dieser widersetzte.
»Sucht das Gleichgewicht, es geht nicht darum, stärker zu sein als der andere«, sagte Will.
Sam gab ein wenig nach und nun waren sie im Einklang miteinander.
Erst jetzt wandte sich Will Sarah zu.
»Wo ist Maxi?«, fragte er.
»Ich habe sie im Auto schlafen lassen.«
Im selben Moment wurde Sarah bewusst, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Wie oft hatte Emily ihre altmodische Gewohnheit, Babys unbeaufsichtigt zu lassen, kritisiert. Emily ließ Maxi nie allein in ihrem Kinderbett schlafen, während sie alle am Strand waren, und im Auto hätte sie sie erst recht nicht gelassen. Doch Sarah betrachtete das ganze Grundstück als ihr Heim und hatte sich stets sicher und behütet gefühlt. Aber sie hätte es besser wissen müssen, besonders heute.
Will schoss an ihr vorbei und rannte hinauf zum Haus.
Kaum waren sie allein
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