5 Tage im Sommer
zusammengerückt waren, weil David Sam etwas vorgelesen hatte. In ihrem Gesicht stand die Freude darüber, dass die beiden einander so nahe waren, dass David so liebevoll mit dem damals fünfjährigen Sam umging und dieser mit Ehrfurcht auf die Fähigkeiten seines großen Bruders reagierte. Die Intensität dieses Moments hatte Sarah beeindruckt, und da ihre Kamera zufällig auf dem Tresen neben ihr gelegen hatte, hatte sie nach dem Apparat gegriffen und ihn auf ihre Tochter gerichtet. Genau in dem Moment, als Sarah abgedrückt hatte, hatte Emily mit ihren haselnussbraunen Augen in die Kamera geschaut. Dieselben Augen, in die Sarah geblickt hatte, als ihr ihre eben geborene Tochter in den Arm gelegt worden war, die Augen, die im Laufe der Jahre Fragen gestellt, angeklagt und innige Liebe ausgedrückt hatten.
Sarah fuhr mit den Fingerspitzen über das Hochglanzfoto. Wo mochte ihre Kleine jetzt sein? Was musste sie durchmachen? Hatte sie Angst? Hatte sie Schmerzen?
Wenn Emily nur nicht zum Einkaufen gefahren wäre. Sie hatten doch eigentlich nichts gebraucht.
Sie konnte den Morgen nicht mit Nichtstun und Abwarten verbringen; sie musste mithelfen, Emily zu finden. Neben Ricky’s Market hatte ein Copy-Shop aufgemacht. Ihre Nachbarin Barbara würde sich bestimmt gerne um die beiden Jungen kümmern. Maxi würde sie mitnehmen, das würde sie schaffen.
Sarah nahm einen Bogen weißes Papier aus dem Faxgerät und klebte Emilys Foto genau in die Mitte. In fetten schwarzen Buchstaben schrieb sie VERMISST über das Foto und darunter: Emily Parker , vermisst seit Montagnachmittag , 3 . September 2001 . Zuletzt gesehen beim Stop & Shop am Mashpee-Kreisel . 39 Jahre alt , 1 , 70m groß , 67 Kilo , rotblondes Haar , haselnussbraune Augen , Sommersprossen . Sarah hätte nur zu gerne gewusst, was Emily angehabt hatte, aber zumindest konnte sie das Armband beschreiben, das ihre Tochter nur zum Duschen und Schlafen ablegte. Sie trägt ein silbernes Armband mit folgenden Glücksanhängern : Schwimmer , Cello , Schwert , Münze , Herz , drei Babys .
Sarah legte den Stift zur Seite und betrachtete ihr Werk. Als Jonah nach einem kurzen Kampf gegen den Krebs im Alter von 77 Jahren gestorben war, war ihr seine plötzliche Abwesenheit unfassbar erschienen, aber sie war dennoch nicht ganz unerwartet gekommen. Die Leere jedoch, die Emily hinterließ, war unwirklich. Es konnte einfach nicht sein, dass so etwas ihrer Tochter widerfuhr. Sarah hatte die ganze Nacht lang mit aller Kraft gegen die Tränen gekämpft, um die Kinder nicht zu wecken und um sich nicht selbst in noch größere Angst zu versetzen, als sie ohnehin schon verspürte. Aber jetzt konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie weinte, bis sie nicht mehr konnte. Ein hohler Klagelaut entrang sich ihrer Kehle und hallte im ganzen Haus wider.
Kurz darauf hörte sie oben Bewegung. Stimmen. Die Jungen redeten. Maxi wimmerte.
Sarah wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und bemerkte, dass sie immer noch die gleiche Bluse wie gestern trug. Sie durfte die Kinder nicht merken lassen, dass sie gar nicht ins Bett gegangen war. Mit hastigen Schritten eilte sie die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer, schlug die Bettdecke zurück, zog sich aus und warf sich den Morgenmantel über. Kaltes Wasser ins Gesicht, um die schmerzliche Angst als bloße Erschöpfung zu tarnen. Als sie sich gerade das Gesicht trocken rieb, wurde die Badezimmertür aufgestoßen.
Sammy warf sich in ihre Arme. »Ich hab Hunger!«
»Guten Morgen, mein Kleiner.« Sie küsste sein vom Schlaf zerzaustes Haar.
Dann erschien David in der Tür. Er hielt eine der glitzernden Pokémon-Karten in der Hand, an denen Sam so hing.
»Das ist meine!« Sam hechtete nach Davids Hand.
»Ich weiß, du Blödmann. Ich hab sie auf dem Fußboden gefunden. Du musst besser auf deine Sachen aufpassen.«
»Gib her!«
»Wie heißt das Zauberwort?«
Sam rang David zu Boden. Sarah wollte die zappelnden Körper gerade voneinander trennen, als Maxis Geschrei lauter wurde.
Großmütter waren nicht dazu gemacht, so viel Chaos zu bewältigen.
»Hört auf mit der Rangelei.«
Sie hatte ein Mädchen aufgezogen, ein Einzelkind. Jungen waren nicht ihre Kragenweite.
»Ich hab gesagt …«
Sam war stark, aber David war größer und gelenkiger, mit Leichtigkeit drückte er seinen kleinen Bruder zu Boden. Sammy zappelte tapfer, aber David gab nicht nach. War unbeugsam . Wie oft hatte er ihr seine »unbeugsamen Arme« demonstriert.
»Los,
Weitere Kostenlose Bücher