5 Tage im Sommer
wohnte der erste Mister White in der Squaw’s Lane Nr. 2. Sein Name war Robert R. Robertson. Etwas Fieseres konnten sich Eltern wohl kaum ausdenken, und Amy hoffte um seinetwillen, dass sein mittlerer Name nicht auch noch Robert war.
In der Squaw’s Lane gab es nur fünf Häuser, bescheidene Hütten, die dicht beieinander standen und deren winzige Gärten durch verrostete Maschendrahtzäune voneinander getrennt waren. Wer immer diese kleinen Grundstücke erschlossen hatte, hatte vor allem auf die Strandlage gesetzt. Auf sonstige Annehmlichkeiten war verzichtet worden.
»Sommerhäuser«, sagte Amy.
Snow sah stur geradeaus. »Hauptsächlich.«
Nummer 2 stand am Ende der kurzen Straße, ein grauer Bungalow aus Holz mit einer kleinen Veranda auf dem Kamm einer Düne, die sich auf den breiten unberührten Strand am Nantucket Sound ergoss. In der Ferne verschmolz der schiefergrüne Ozean mit dem klaren Himmel.
Der silberfarbene Skylark stand in der Auffahrt.
Snow parkte den Wagen, und sie stiegen aus.
»Irgendwie komisch«, sagte Amy und deutete auf das ärmliche Haus in der unbezahlbaren Lage.
Snow verstand sie nicht oder wollte es nicht zugeben. »Was meinen Sie?«
»Nichts.«
Sie stiegen eine Reihe angefaulter Holzstufen hinauf, die vor einer mit Fliegengitter verkleideten Außentür endeten. Die Tür quietschte, als Snow sie aufzog. Amy drückte auf die Klingel, und sie hörten ein einzelnes, gedämpftes »Ding«. Der Anstrich der inneren Tür war abgeblättert, und weiße Farbschuppen lagen überall herum. Am Zaun hing ein metallener Mülleimer, der von Maishülsen und deren langen goldenen Fasern überquoll.
Schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt, und ein Gesicht starrte ihnen entgegen. Der Mann war so weiß, dass er ein Albino hätte sein können. Haar, Haut und Augen verschwammen zu einem einzigen Fleck. Er schloss die Tür und schob sie dann wieder einen Spalt auf. Er wiederholte das Ganze noch einmal. Amy wusste, dass sie an der richtigen Stelle waren.
»Ich bin Detective Cardoza vom Mashpee Police Department. Das hier ist Detective Snow. Sind Sie Robert Robertson?«
Die Augen des Angesprochenen huschten zwischen Amy und Snow hin und her. Schließlich blieb sein Blick an Snow hängen.
»Bob?«, sagte Snow.
Die blassen Augen blinzelten. »Bobby.«
»Was dagegen, wenn wir ein paar Fragen stellen?«
Bobby öffnete die Tür gerade weit genug, um hinauszuschlüpfen. Ganz offensichtlich wollte er sie nicht hineinlassen. Amy konnte nur einen kurzen Blick auf eine ordentlich ausgerichtete Reihe von Schuhen auf einem weißen Teppich und ein hohes Regal mit Taschenbüchern, deren Rücken perfekt in einer Linie standen, richten.
Bobby schwitzte stark. Laut seiner Akte war er zweiundfünfzig Jahre alt, sah aber eher aus wie sechzig.
»Wir untersuchen eine Vermisstenanzeige. Emily Parker.« Amy zeigte Bobby Emilys Bild. »Kennen Sie die Frau?«
Bobbys Blick flackerte dreimal, huschte über die Gesichter der Detectives und landete dann wieder bei dem Foto. Er schüttelte den Kopf.
Er log.
»Sie mögen gern Mais.« Amy nickte in Richtung des Mülleimers am Zaun.
Bobby schwieg.
»Mais war gestern im Angebot im Stop & Shop bei den Mashpee Commons. Kaufen Sie oft dort ein?«
»Immer montags«, sagte Bobby. »Dann gibt es doppelten Rabatt.«
»Sie haben gestern eine riesige Menge Mais gekauft. Leben Sie allein? Oder haben Sie vielleicht eine Party gegeben?«
Er schien nicht zu wissen, welche Frage er zuerst beantworten sollte.
»Leben Sie mit jemandem zusammen?«, wiederholte Amy.
Bobby schüttelte den Kopf. »Ich mag keine Partys. Leute machen mich nervös.«
Das konnte Amy ihm ansehen. Er war auch im Augenblick ziemlich nervös. »Also haben Sie den ganzen Mais gestern Abend allein gegessen?«
»Zum Teil. Für heute Abend ist noch was übrig. Und auch für morgen. Ich mag Mais. Und er war im Angebot.«
Amy verstand: Bobby aß nur das, was im Angebot war. Sonst nichts. Deswegen sah er so ungesund aus. Und er tat alles immer dreimal. Ein Zwangsneurotiker also. Sie würde später nachschauen, ob er schon einmal straffällig geworden war. Vielleicht würde sie auch einen Psychiater finden oder sonst jemanden, der ihr nähere Angaben zu dem Befinden des Mannes und seiner Lebensgeschichte machen konnte. Er könnte Emily in seinem Haus versteckt halten oder irgendwo sonst. Aber möglicherweise war er auch viel zu labil, um so eine Entführung zu organisieren. Das musste sie herausfinden.
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