5 Tage im Sommer
wir also an, dass es so war«, Amy versuchte sich zu konzentrieren. »Und dass Mister White Sam bei sich hat und sie sich auf dem Boot befinden. Wie lange wird er warten, bis er mit dem Sezieren beginnt?«
Es folgte eine Pause, während deren anscheinend niemand etwas sagen mochte. Schließlich ergriff Geary das Wort: »Das hängt davon ab, was stärker ist: sein Drang, dem Kind Schmerzen zu bereiten, oder, die Mutter zu terrorisieren.«
»Was geschieht während dieser Zeit?«, fragte Amy.
»Missbraucht er seine Opfer sexuell?«, setzte Sorensen ihren Gedankengang fort. »Die Mutter? Die Kinder?«
Geary antwortete. »Es gibt keinen direkten Beweis für eine sexuelle Komponente.«
»Und das bedeutet?«, fragte Sorensen.
»Seine Sexualität könnte so unterdrückt sein, dass er sich auf andere Art und Weise befriedigt.«
»Zum Beispiel durch Gewalt«, schlug Amy vor.
»Das ist schon fast ein Klischee.« Sorensen schüttelte den Kopf.
Kaminer sog hörbar Luft ein und warf einen Blick auf seine Uhr. »Wir müssen seinen Zeitrahmen für heute rausbekommen.«
Kaminers Ungeduld ging Amy gewöhnlich auf die Nerven, aber diesmal gab sie ihm Recht. Jetzt in diesem Moment konnte irgendwo an der Küste von Cape Cod das Schreckliche geschehen.
»Wie viel Zeit uns bleibt, hängt von Mister Whites psychischer Anspannung ab«, vermutete Geary.
»Er hat zwei Jungen entführt, und das einen Tag zu früh«, sagte Sorensen.
Amy nickte. »Er ist nervös.«
»Ich würde sagen, diese Entwicklung hat sich schon vor sieben Jahren angebahnt«, sagte Ingram.
»Daniels Torso wurde sozusagen noch warm an einem Ort abgelegt«, folgte Geary ihrem Gedanken, »wo man ihn sofort entdecken musste. Die Körperteile der anderen Kinder hat er entweder vergraben oder versenkt, sodass sie erst nach einiger Zeit entdeckt wurden.«
»Das stimmt«, sagte Amy. »Ein Kopf in den Dünen, ein Arm in einem Sumpf, ein weiterer Arm vergraben unter einem Anleger.«
»Warum der Torso auf einer Schaukel?«, fragte Sorensen. »Warum die Abkehr von der aufgeschobenen Entdeckung?«
»Er ist vor sieben Jahren aus irgendwelchen Gründen nervös geworden«, sagte Amy. »Damals begann sich das Muster zu verändern.«
»Bis dahin«, sagte Jones, »brauchte er Zeit …«
»… um seine Restitution zu vollenden«, sagte Ingram. »Er verbarg sich im allmählichen Wandel der Natur.«
Jones warf ihr einen Blick zu. »Hübsch gesagt.«
»Der Kopf ist entdeckt worden, als die Dünen erodierten«, fuhr Ingram fort, »der Arm ist an die Wasser-Oberfläche gestiegen, als die Gase, die im Fleisch gefangen waren, ihm das Gewicht nahmen, und so wurde er ans Ufer gespült …«
»Schluss mit der Poesie«, schnauzte Kaminer.
Amy fiel etwas ein. »Hat jemand mal die Gezeiten überprüft?«
Tom sprang auf und lief um den Tisch zu seinem Computer. Mit seinen schnellen, schweren Fingern bearbeitete er die Tastatur, bis er die Webseite gefunden hatte, die er suchte. »Sieht so aus, als würden die Gezeiten entlang der Küste variieren. Sie sind überall verschieden. Es kommt darauf an, wo man sich befindet.« Seine Blicke huschten über den Bildschirm. »Je nach Bucht und Meeresarm verändern sich die Verhältnisse. Dazu kommen Faktoren wie Flutströmungen, Ebbeströmungen und Stillwasserphasen.« Tom blickte hinüber zu Geary. »Für mich ist das alles Sanskrit.«
Amy stand auf und durchquerte den Raum, um einen weiteren Blick auf die Karte zu werfen. Langsam begann sie zu verstehen.
»Er ist nicht sehr weit gefahren. Emily Parker befindet sich wahrscheinlich in der Nähe des Cape, denn er muss ja den Jungen aufs Boot bringen. Er wird nur so lange an einer richtigen Anlegestelle bleiben, wie unbedingt nötig ist, und sich dann wieder in sein Versteck zurückziehen. Wahrscheinlich ankert er in einer kleinen Bucht, an einem Fluss, irgendwo, wo keine Häuser in der Nähe sind.«
Im Raum war es still; alle hörten zu.
»Ich frage mich, ob wir unsere Suche nicht effektiver gestalten könnten, wenn wir wüssten, wie die Gezeiten an den verschiedenen Küstenstreifen schwanken. Er dürfte die Orte meiden, wo die Strömungen am heftigsten sind; er sucht das Zusammenspiel, die Vorhersagbarkeit, meidet jegliche Störungen.«
Sie drehte sich um und sah auf die Karte. Die Linien, die sie so ausgiebig studiert hatte, verwandelten sich in ein klares Bild. Wo sie zuvor die Konturen von Land gesehen hatte, das in den Ozean hineinragte, erkannte sie jetzt die Umkehrung: Einkerbungen,
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