54 - Deutsche Helden, Deutsche Herzen 06 - Die Kosaken
der Begleitung von Barth, dessen Frau und Semawa. Mit eiligen Schritten kamen sie vom Garten herbei.
Fürst Bula stieß beim Anblick der alten Leute einen Schrei grenzenloser Überraschung aus. Er starrte Barth und dessen Weib mit weitgeöffneten Augen an, und sagte zu Kalyna:
„Kalyna, liebe Kalyna, sie sind es. Es sind die Verbannten von damals. Ich erkenne sie, obwohl es so lange her ist.“
„Ja, auch ich besinne mich auf sie. O mein Gott, sie sind es!“ entgegnete Kalyna. „Wir müssen unsere Karpala hergeben!“
Frau Barth hatte ihre Arme erhoben und machte eine Bewegung, sich Karpala zu nähern.
Diese hatte tiefbewegt, aber stumm dagestanden. Was in ihrem Inneren vorging, läßt sich nicht beschreiben. Es trieb sie zu den Eltern, und doch hielt es sie auch zurück. Jetzt aber riß es sie mächtig zu ihnen.
„Mutter, meine Mutter!“ schrie sie auf und warf sich in Frau Barths Arme.
„Mein Kind, mein Kind!“ schluchzte die würdige Frau. „Ist es möglich? Ist es wahr?“
Sie hielten sich innig umschlungen, bis die glückliche Frau die wiedergefundene Tochter in die Arme des Vaters schob.
„Kalyna, o Kalyna!“ jammerte der Fürst. „Das ist der unglücklichste Tag unseres Lebens.“
„Ja“, antwortete diese weinend. „Der unglücklichste, oder aber auch der glücklichste. Ist es nicht ein Glück für uns, diesen guten Leuten eine solche Seligkeit bereiten zu können?“
Der Fürst sprach nicht weiter, er wandte sich ab. Er weinte leise vor sich hin. Da riß Karpala sich von den Eltern los, eilte zu ihm, umschlang ihn und bat:
„Weine nicht, Vater, weine nicht, Mutter! Ihr seid ja auch meine Eltern und sollt es stets bleiben.“
Steinbach hatte sich inzwischen entfernt, um die fünf Personen mit ihren Gefühlen allein zu lassen.
Drinnen in der Stube sah er Boroda, der bei Mila, seiner Geliebten, saß.
„Deine Eltern wünschen dich zu sehen“, sagte er zu ihm. „Du findest sie auf dem Weg nach dem Brunnen.“
Boroda ging, und Steinbach winkte Georg von Adlerhorst zu sich, um ihm zu sagen:
„Auch Sie wird es interessieren, weshalb Boroda von mir zu seinen Eltern gesandt wird. Sie lieben Karpala; ich habe mich darüber gefreut, denn sie ist Ihrer würdig. Sie werden glücklich mit ihr sein.“
Georg schüttelte den Kopf und antwortete trübe:
„Das bezweifle ich. Karpala kann mir ja niemals gehören. Die Sehnsucht nach ihren Eltern würde sie verzehren.“
„Wenn sie nun ihre Eltern bei sich hätte?“
„Das kann wohl nicht geschehen. Bula wird die sibirische Erde nie verlassen.“
„Hm! Er hat große Lust, Europa zu sehen. Übrigens hat nicht er allein über Karpala zu bestimmen. Bula und Kalyna sind nur die Pflegeeltern Karpalas. Die wirklichen Eltern sind noch vorhanden. Gehen Sie hinaus zu Boroda. Da werden Sie sie sehen.“
„Zu Boroda? Herr Steinbach, mir kommt eine Ahnung! Nicht wahr, Karpala ist die Schwester von Boroda?“
„Ja“, entgegnete Steinbach gerührt.
„Was höre ich! Diese Barths sind also Ihre Eltern! Ist es wirklich erwiesen, daß Karpala Barths Tochter ist?“
„Zur Evidenz!“
Da erstrahlte Georgs Gesicht vor Freude.
„Wenn es so ist“, sagte er zu Steinbach, „so bringen Sie mir allerdings eine Botschaft des Glücks, für die ich Ihnen gar nicht genug zu danken vermag.“
„Oh, mir sind Sie keinen Dank schuldig. Aber da habe ich ja Sam ganz vergessen. Er ist doch als glücklicher Doppeloheim in hohem Grad beteiligt.“
Sam saß am Tisch und hatte, da Steinbach sich zu ihm wandte und die letzten Worte laut sprach, dieselben gehört.
„Was? Ein Doppelonkel soll ich sein?“ fragte er.
„Ein sehr glücklicher“, entgegnete Steinbach, „denn Sie haben nicht nur einen Neffen, sondern auch eine Nichte. Sie ist soeben erst entdeckt worden.“
„Entdeckt? Werden denn die Nichten entdeckt? Hm! Davon weiß ich auch noch nichts. Welcher Astronom hat sie denn durch das Fernrohr gesehen?“
„Ich! Gehen Sie hinaus zu Ihrem Bruder. Er wird sie Ihnen zeigen. Karpala ist Ihre Nichte.“
„Kar-pa-la!“ rief der Dicke. „Ich, Sam Barth aus Herlasgrün, soll der Onkel einer so prächtigen Nichte sein? Ich muß nur schnell hinaus, um zu sehen, was Wahres daran ist.“
Er eilte fort, aber nicht er allein, sondern alle anderen, außer Semawa, folgten ihm. Auch sie waren von der Neuigkeit so freudig überrascht, daß sie sich schnellen Beweis holen wollten.
Kaum war eine Minute vergangen, so ließen sich draußen laute, frohlockende
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