55 - Die Liebe des Ulanen 01 - Im Auftrag Seiner Majestät
Bock; er hatte die Zügel verloren und hielt sich krampfhaft fest, um nicht herabzufallen.
Das Pferd galoppierte gerade auf den Steinbruch zu. Es war verloren: es konnte nicht aufgehalten werden; keine Menschenkraft war stark genug, den Galopp des Tieres zu mindern, bevor es den Abgrund erreichte. Müller versuchte es dennoch. Er sprang am Rand des Felsens entlang, aber er hatte nicht die Schnelligkeit des Pferdes. Noch war es höchstens zehn Schritte vom Abgrund entfernt, da erreichte er den Wagen, dem er schräg entgegengeflogen war. Konnte denn nicht wenigstens der Knabe gerettet werden? Müller hatte seine Kaltblütigkeit keinen Augenblick verloren. Er stemmte sich mit dem einen Fuß fest, und während der Wagen an ihm vorübersauste, streckte er den Arm nach dem Bock aus, faßte den Knaben, der mit vor Angst weit offenen Augen in die Leere starrte, und riß ihn herab. Im nächsten Augenblick flogen Pferd und Wagen in einem weiten Bogen über die Kante des Abgrundes hinaus und in die Tiefe hinab, wobei Müller nun erst bemerkte, daß sich noch eine menschliche Gestalt im Wagen befand, welche sich vor Schreck auf dem Boden zusammengekauert hatte. Von unten herauf erscholl ein dumpfer Krach; dann war alles vorbei.
Der Knabe lag ohnmächtig am Boden. Seiner feinen Kleidung nach war er jedenfalls das Kind nicht gewöhnlicher Eltern. Während Müller sich um ihn bemühte, kamen die Feldarbeiter herbei, deren Ruf ihn erst aufmerksam gemacht hatte.
„Welch ein Glück, daß Sie ihn herunterrissen!“ rief der eine bereits von weitem. „Es ist der junge Herr!“
„Welcher junge Herr?“ fragte Müller.
„Der Herr Baron.“
Die Leute bückten sich zu Alexander nieder; sie mochten ihn für tot halten.
„Er lebt“, meinte Müller. „Er ist nur ohnmächtig. Welchen Baron meinen Sie?“
„Den Baron von Sainte-Marie. Ah, das wird eine gute Belohnung geben. Greift zu, damit wir ihn auf das Schloß schaffen!“
Sie faßten an und trugen den Knaben fort. Müller ließ sie gehen; er lächelte darüber, daß sie um des Lohnes willen sich gar nicht um sein besseres Recht bekümmerten. Er kehrte um und stieg wieder in den Steinbruch zurück. Als er da unten ankam, bot sich ihm ein schauderhafter Anblick. Der Wagen lag, in kleine Stücke zerschmettert, auf dem toten Pferd, welches eine weiche, formlose Masse bildete, und ein Stück weiter hin lag der Groom, ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Hier war nichts zu tun. Müller brauchte sich um eine Anmeldung und weitere Verfolgung des Falles nicht zu bekümmern; er wußte, daß dies von anderer Seite geschehen werde, und schlenderte also Ortry langsam entgegen. –
Dort war mittlerweile die Zeit des zweiten Frühstückes angebrochen, und die Glieder der Familie waren im Speisesaale an der Tafel versammelt. Es war bei dieser Gelegenheit recht deutlich zu sehen, daß diese Leute in keinem innigen seelischen Zusammenhang miteinander standen. Die einzelnen Personen kamen ganz nach Belieben herbei und nahmen mit einem stummen Gruß an der Tafel Platz. Die Baronin präsidierte; der Kapitän beachtete sie kaum mit einem Blick, und der Baron saß wie abwesend dabei und aß mit einem Gesichtsausdrucke, als wisse er überhaupt gar nicht, daß und was er esse. Nur nach längerer Zeit, als der junge Herr sich noch immer nicht eingestellt hatte, fragte der Kapitän:
„Wo bleibt Alexander?“
„Der junge gnädige Herr ist ausgefahren“, antwortete einer der Diener.
Nun folgte wieder dieselbe Stille und Wertlosigkeit wie bisher, bis man an den Schluß des Frühstücks angekommen war. Da vernahm man unten vom Hof herauf laute, erschrockene Stimmen. Der Kapitän trat an das Fenster und sah nur noch einige fremde Leute, welche, etwas tragend, im Eingang verschwanden.
„Was ist's?“ fragte die Baronin, indem sie sich erheben wollte.
„Warten Sie, ich werde nachsehen!“ sagte der Alte, dem eine Ahnung kam, daß die Last, welche diese Leute getragen hatten, eine menschliche Person gewesen sei.
Er schritt hinaus und begegnete ihnen auf der Treppe. Als sie ihn erblickten, hielten sie respektvoll an. In Gegenwart dieses Mannes wagte keiner, unaufgefordert ein Wort zu sprechen. Der Kapitän trat hinzu und erkannte Alexander. Seinen Liebling tot oder besinnungslos zu sehen, kam ihm unerwartet und mußte ihn tief ergreifen; aber es zuckte dennoch keine Miene seines eisernen Gesichts, als er in ruhigem Ton fragte:
„Was ist mit ihm?“
„Er ist nicht tot, gnädiger
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