56,3° Im Schatten
versäumt hat – pfui Teufel! So was Grausliches hat die Zunge vom Biermösel noch nie benetzt. Und dann halt selbst ein paar Eiswürfel aus dem Keller heraufgeholt und auf seinen kleinen Bruder draufgelegt, sogar ein paar mehr als von der Anni und der UNO für solche Fälle empfohlen, damit er ihn sich noch ein paar Minuten länger anschauen kann als vor ein paar Stunden den Grasmuck. Den, der sein kleiner Bruder war und der sein Nachfolger hätte werden können, wenn er ihn nur ein bisserl früher kennengelernt und auf den rechten Weg umgeleitet hätte – weg vom Erfolg im Bierzelt, hin zum Elend der Ermittlerei. Weg von den vielen Weibern, die so einem König nachrennen, hin zur kompletten Einsamkeit eines Ausseer Landgendarmen, der ein Leben lang komplett ohne Weiber auskommen hat müssen.
Hätte der Biermösel nur ein paar Jahre früher gewusst, dass er einen kleinen Bruder gehabt hat, dann hätte er den Ramzi schon damals am Ohrwascherl packen und aus dem Bierwagen herausholen können, so malt sich der Biermösel jedenfalls die Vergangenheit in den buntesten Farben aus. Und dann hätte er dem Ferdl alles erklärt, was er weiß über die Flüsse und das Meer, über den Fememord und das Abstechen im Blutrausch sowie über Sonne, Mond und Sterne. Und der Ramzi wiederum hätte sich getrost eine Lederhose anziehen und sich der Volksmusik zuwenden können, und wenn die anderen zwei nicht schon tragisch verstorben wären, dann …
Aber scheiß der Hund drauf!, denkt sich der Biermösel dann und entzündet die erloschene Glut an seinem Joe. Wenn er es sich nämlich recht überlegt, dann lehnt er einen Franzosen als jüngeren Bruder sowieso rundheraus ab, wurscht, ob als Volksmusikant oder als Nachfolger. Also ist er letztlich sogar wieder ganz froh darüber, dass die Eiswürfel auf dem Ferdl schneller dahinschmelzen als die Polkappen unter den Pranken vom Eisbären, neben einem Cognactrinker möchte er nämlich nicht in der Familiengruft liegen, das ist ganz ausgeschlossen.
Als er sich den Ferdl noch einmal genau anschaut, fehlt ihm schon jedes Mitleid, aber zusammen mit dem Mitleid fehlt ihm auch jede vernünftige Idee, wer seinem kleinen Bruder aus welchen Gründen auch immer die Trompete in die Gurgel geschoben haben könnte. Und mit jedem weiteren gerauchten Joe entfernt er sich immer weiter von jeder Vernunft und taucht stattdessen immer weiter in seine Parallelwelten voller Paranoia ab. Also wird er halt zur Probe seine kleine Schwester ein bisserl ins Geschirr der Ermittlungen einspannen und sie testen, ob sie sich neben dem Schießen aus der Hüfte heraus vielleicht auch im Kombinieren aus dem Schädel heraus bewährt, „also Roswitha! Wer war es, warum, wieso, weshalb? Was fällt dir zu dem ganzen Blödsinn ein?“
„Fangen wir so an“, fängt die Roswitha an: „Siehst du den Cognacschwenker am Tisch?“
„Gut, dass du mich das fragst!“, sagt der Biermösel ganz in der Art der Politiker, das gibt ihm jetzt nämlich die Möglichkeit, an die Roswitha das Wissen weiterzugeben, das er vom durch und durch unsympathischen Ausbildner in der Gendarmerieschule oben in Linz im Fach „Spirituosen – erkennen, vernichten, deponieren“ erworben hat:
„Insbesondere der Franzose mit seinem Niveau und seinem Quatrevintdisneuf“, hat der Ausbildner erzählt, „glaubt ja in seiner bodenlosen Selbstüberschätzung, dass er auf Französisch bis hundert zählen kann, aber was kann der Cognac in seinem Schwenker, was unser Starkbier in seinem Krug nicht besser könnte? Und was enthält sein Absinth, was nicht in unserem Wacholderschnaps auch drinnen wäre? Also hinweg mit allen Franzosen, ein langes Leben sei den Coganctrinkern nicht beschieden!“
So viel also vom Biermösel zum Cognacschwenker am Tisch, aber der interessiert die Roswitha natürlich nur am Rande.
„Interessant ist der Bierkrug neben dem Schwenker, du Depp, nicht der Cognacschwenker neben dem Bierkrug“, belehrt sie ihn ruhig. Dann zündet sie sich eine Menthol-Zigarette an, die sie immer dann raucht, wenn ihr der Gestank in der Wirtsstube zu viel wird, und setzt sich neben den stinkenden Ferdl auf die Chaiselongue. Sie schlägt dynamisch die Schweinshaxen übereinander, sodass das Blut aus ihren brüchigen Venen herausspritzt, und dann legt sie los:
„Es war so: Biersäufer trifft auf Cognactrinker, rustikaler Einheimischer auf feingeistigen Fremden. Herrgottswinkellosigkeit und Absenz sämtlicher Insignien des Einheimischen stoßen
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