595 Stunden Nachspielzeit - Humorvoller Roman (German Edition)
wirken.
»Ich wohne im selben Haus wie er und erst vor wenigen Tagen haben wir Frisbee gespielt.«
»Cool!«
»Boah!«
»Echt?«
»Ihm habt ihr zu verdanken, dass ich hier bin. Er hat mir vor Kurzem erzählt, wie toll er einen Besuch von mir in seiner Schule fände.« Mit jedem meiner Sätze scheint Katharinas Sohn auf seinem Stuhl zu wachsen. »Daher bitte ich euch um einen lauten Applaus für Noah Wagner.«
Der Beifall ist ohrenbetäubend. Die Kinder in den ersten Reihen drehen sich zu ihm um, hinter ihm Sitzende klopfen ihm auf die Schulter. Er genießt den Aufstieg zum Klassenstufenstar. Ehe ich wieder das Zepter übernehme, lasse ich ihn das Gefühl auskosten. Im Anschluss daran lege ich mich stark ins Zeug und absolviere eine der besten Lesungen meiner Karriere.
Natürlich erteile ich zuerst Noah das Wort. Seine Schulkameraden interessieren sich in der Folge viel mehr für unsere Freundschaft als für mein Buch.
Sie erkundigen sich, wie oft wir zusammen spielen und ob er meine Romane früher zu lesen bekommt. Irgendwie versuche ich, bei der Wahrheit zu bleiben, damit Noah nicht lügen muss. Also behaupte ich, dass er zukünftig zuallererst in meinen Geschichten schmökern darf, da mir seine Meinung sehr wichtig sei. Ich wähle bewusst schwammige Formulierungen, wenn es um unsere Unternehmungen geht. Irgendwann erfahre ich, dass die Kinder nach der Lesung schulfrei haben. Ein Mädchen möchte daraufhin wissen, ob ich gemeinsam mit Noah nach Hause laufen werde.
»Klar«, antworte ich, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. »Jeder, der sich uns anschließen will, kann uns bis zur Haustür begleiten.«
Einige Schüler jubeln, weil sie den gleichen Weg haben, andere wirken enttäuscht, da sie vermutlich woanders wohnen oder abgeholt werden.
Bei der Autogrammstunde lassen die Klassenkameraden Noah den Vortritt. Er trägt sein Autogramm, das ich mit dem Zusatz ›für meinen Freund‹ versehe, stolz davon. Manche seiner Mitschüler wünschen sich auf ihrem Exemplar einen Hinweis, mit ihm befreundet zu sein. Deswegen werde ich erst ein paar Minuten nach dem Klingeln fertig. Mit einem Anhang von acht Schülern verlasse ich das Gebäude. Mein Trolley ist deutlich leichter geworden, weil ich jedes der zwanzig mitgebrachten Bücher verkauft habe. Fast komme ich mir wie der Rattenfänger von Hameln vor, während ich mit den Kindern im Schlepptau den Bürgersteig entlanglaufe. Sie sind quicklebendig und wollen alles Mögliche über uns in Erfahrung bringen. Plötzlich entdecke ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite die beiden Rabauken, die Noah vor wenigen Tagen verfolgt haben.
»Wer sind die zwei?«, frage ich ihn.
»Blödmänner aus der vierten Klasse«, antwortet ein Mädchen an seiner Stelle. »Die ärgern uns ständig auf dem Schulhof.«
»Hey!«, rufe ich zu ihnen hinüber.
Sie registrieren zwar meinen Ruf, ignorieren mich aber.
»Bleibt mal kurz stehen!«, befehle ich meiner Gefolgschaft. Der Lesungserfolg hat mich euphorisch gestimmt, ich fühle mich wie ein Rächer der Schwächeren. Deshalb überquere ich die Straße und packe einen der Terrorkrümel am Schulranzen.
»Loslassen!«, brüllt der Junge aggressiv.
»Ihr seht die Kinder dort?«
Keiner der Viertklässler gibt zu erkennen, ob er meine Sprache versteht.
»Die befinden sich unter meinem Schutz. Wenn ihr die noch einmal ärgert, legt ihr euch mit mir an.«
Der Schüler, dessen Ranzen ich gepackt habe, schlägt nach meiner Hand. Trotzdem meine ich in seinen Augen zu erkennen, dass er zukünftig nach geeigneteren Opfern Ausschau halten wird. Ich lasse ihn los. Wie von der Tarantel gestochen flitzen sie davon.
Ich bitte die Drittklässler, Noah Bescheid zu geben, falls sie weiterhin Stress mit den älteren Jungs haben, wodurch er sicherlich in ihrem Ansehen steigt. Hoffentlich hilft ihm mein Einsatz auch nach meinem Ableben.
Als wir bei uns zu Hause ankommen, bedanken sich die Kinder ausgiebig für die tolle Lesung und verabschieden sich.
»Wann kommt deine Mutter heim?«, frage ich, als wir allein sind.
»Um halb drei.«
»Willst du so lange mit zu mir? Wir könnten etwas spielen.«
»Au ja!«
»Dann müssen wir ihr bloß eine Nachricht hinterlassen.«
In ihrer Wohnung warte ich in der Diele. Dort befindet sich ein Schrank, der einen beträchtlichen Teil des freien Platzes einnimmt. Ich bin versucht, einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen, zügle jedoch meine Neugier.
»Hat deine Mutter eigentlich über mich
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