595 Stunden Nachspielzeit - Humorvoller Roman (German Edition)
und betrete das beengte Büro, das von einem großen, walnussfarbenen Schreibtisch dominiert wird. Am mit Papieren übersäten Arbeitsplatz sitzt eine brünette Frau Mitte vierzig, die auf einen PC-Monitor starrt.
»Frau Müller?«, vermute ich.
»Einen Augenblick!« Die Sekretärin tippt im Zehnfingersystem etwas zu Ende, ehe sie sich mir zuwendet.
»Herr Frost?«
»Genau.«
Sie erhebt sich, schüttelt mir die Hand und erkundigt sich, ob ich einen Kaffee trinken möchte. »Frau Spieß unterrichtet noch. In wenigen Sekunden –« Der Rest des Satzes geht im durchdringenden Pausenklingeln unter.
Es dauert keine zwei Minuten, bis mich die Direktorin begrüßt. Sie könnte eine Halbschwester der Leiterin meiner ehemaligen Grundschule sein: ähnliche Frisur, vergleichbare Kleidung, dasselbe dominante Auftreten.
»Keiner meiner Lehrer hat übrigens an Ihrem Gewinnspiel, von dem auf Ihrer Homepage nichts zu finden war, teilgenommen«, erklärt sie mir mit hochgezogenen Augenbrauen. »Eine nach der Lesung ausgestellte Rechnung werde ich geflissentlich ignorieren.«
»Haben Sie meine Bestätigungsmail nicht erhalten?«, wundere ich mich über dieses unangemessene Misstrauen.
»Die befindet sich abgeheftet in unseren Unterlagen. Es würde mich brennend interessieren, warum Sie so erpicht darauf sind, bei uns zu lesen.« Anscheinend erwartet sie keine Antwort, denn sie bietet mir direkt im Anschluss an, mich zur Aula zu führen, in der die Veranstaltung stattfindet.
Der Saal ist bereits vorbereitet. Für mich stehen auf einer etwas erhöhten Bühne ein Bürosessel, ein Tisch und ein Mikrofon zur Verfügung. Unterhalb des Podiums befinden sich zehn Stuhlreihen à sieben Stühle.
»Zunächst schicken wir den zweiten Jahrgang mit insgesamt fünfundfünfzig Kindern zu Ihnen«, informiert mich die Direktorin. »Danach kommen die dritten Klassen. Falls heute niemand krank geworden ist, haben Sie dann achtundfünfzig Zuhörer. Ich bringe Ihnen stilles Mineralwasser und ein Glas. Wenn Sie nichts dagegen haben, nehme ich an der ersten Lesung teil.«
»Sie sind herzlich eingeladen.«
***
Wenige Zeilen vor dem Ende des Ausflugs in die Welt von Konstantin Klever fällt mein Blick auf Frau Spieß. Sie sitzt völlig entspannt auf einem kleinen Stuhl, ein Lächeln auf den Lippen. Offensichtlich ist sie froh darüber, auf keinen Dilettanten hereingefallen zu sein. Auch die Kinder lauschen gebannt. Als ich an einer spannenden Stelle das Buch laut zuschlage und mich für die Aufmerksamkeit bedanke, ernte ich stürmischen Applaus von Schülern und Lehrern. Zufrieden erkenne ich in ihren Gesichtern, eine gute Vorstellung geboten zu haben.
Mir werden eine Menge Fragen gestellt – manche habe ich schon in anderen Schulen gehört, manche sind völlig neu. Irgendwann muss ich die Fragerunde sogar abbrechen, damit jedes Kind innerhalb der vorgesehenen Schulstunde ein Autogramm bekommen kann. Nur der Buchverkauf enttäuscht mich wie so oft. Lediglich vier Bücher wechseln ihren Besitzer.
Zuletzt kommt die Direktorin zu mir. »Ich glaube, ich werde einen Leserbrief an die RZ schreiben. Nach den Eindrücken, die ich heute gewonnen habe, hatten Sie diese vernichtende Kritik nicht verdient.«
***
Als die Drittklässler die Aula betreten, winkt mir Noah schüchtern zu. Er setzt sich in die vierte Reihe. Ob er sich wohl daran gehalten hat, niemandem zu verraten, dass wir uns persönlich kennen?
Kaum hat eine Lehrerin die Tür geschlossen, greife ich zum Mikrofon.
»Sind jetzt alle da?«, erkundige ich mich.
Die Lehrerin nickt.
»Hallo zusammen! Ich bin Sven Frost und freue mich, hier zu sein.«
»Guten Morgen, Herr Frost«, ertönt es einstudiert aus fast sechzig Kinderkehlen.
»Ich lese euch Auszüge aus meinem Roman
Konstantin Klever
vor, in dem es um einen Jungen geht, der von einem spannenden Abenteuer ins nächste stolpert.« Ich halte das Hardcover in die Höhe, und einige der Schüler flüstern aufgeregt mit ihren Sitznachbarn. »Danach dürft ihr mir Fragen stellen, anschließend erhält jeder von euch ein Autogramm.«
Nun jubeln die Kinder lautstark. Das Signieren meiner Flyer erfreut sich in Grundschulen großer Beliebtheit.
»Bevor ich anfange«, fahre ich schließlich fort, »möchte ich euch mitteilen, dass dies für mich heute etwas ganz Besonderes ist. Ich bin nämlich mit einem eurer Klassenkameraden richtig gut befreundet.«
Meine Worte lassen das Nachbarskind strahlen, während die anderen Schüler perplex
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