60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
zuvor.
„Laßt das gut sein, meine Freunde“, sagte er. „Der Verdacht ist gegen mich, und es wird mir wohl gelingen, ihn zu zerstreuen. Ich darf mich dem Arrest nicht widersetzen. Herr Gendarm, ich stelle mich Ihnen zur Verfügung.“
Der Beamte nickte mit dem Kopf und sagte dann:
„Sie wissen ebenso gut wie ich, was ich da zunächst zu tun habe?“
„Ja. Sie werden mich erst durchsuchen und dann fesseln. Einem Mörder legt man Fesseln an; das ist vorgeschrieben.“
Er hatte das im bittersten Ton gesprochen. Dann griff er in die Taschen und zog alles hervor, was sich in denselben befand: die Uhr, ein Federmesser, die Geldbörse, das Taschentuch, ein Zigarettenetui und endlich –
„Was ist das?“ fragte er, im höchsten Grad erstaunt, als er aus der Seitentasche seines Jacketts auch einen Schlüssel hervorbrachte.
„Sie kennen diesen Schlüssel nicht?“ fragte der Gendarm.
„Nein, ganz und gar nicht. Ich habe ihn niemals besessen.“
„Zeigen Sie her! Der Form und Größe nach muß es ein Zimmerschlüssel sein. Vielleicht läßt es sich später sagen, wem er gehört und wie er in Ihre Tasche geraten ist. Ich bin verpflichtet, diese Gegenstände an mich zu nehmen. Darf ich um Ihre Hände bitten!“
Es überlief Brandt doch ein Grauen, als er sah, daß der Beamte eine dünne, aber feste Schnur hervorzog.
„Ah, die Fessel!“ sagte er. „Hier, binden Sie mich, damit ich Ihnen nicht entfliehen kann! Wohin führen Sie mich?“
„Nach dem Schloß. Wenn die Herren vom Gericht in der Tannenschlucht fertig sind, werden sie sich zu Ihnen verfügen und ich bin überzeugt, daß es Ihnen sofort gelingen wird, sie von Ihrer Unschuld zu überzeugen. Mein Kollege wird hier bei der Leiche zurückbleiben, damit der Status quo erhalten bleibe.“
Brandt wurde gebunden und mußte dann dem Beamten nach dem Schloß folgen. Er befand sich in einem Zustand, welcher sich nicht beschreiben läßt; er war vollständig unfähig, sich objektiv in dem Ereignis zurechtzufinden. Er schritt ganz mechanisch neben dem Gendarmen her. Er bemerkte nicht, wem er begegnete; er sah nicht, wie verwundert, ja entsetzt man überall die Augen auf ihn richtete, und erst als er in ein festes Gelaß des Schlosses eingesperrt worden war, kam ihm der Gedanke, daß sein Verhalten doch ein noch viel entschiedeneres hätte sein können.
Auch Alma war in einer ähnlichen Geistesverfassung auf dem Schloß angekommen. Sie wollte zu dem Vater eilen, um ihm das Schreckliche mitzuteilen, fand jedoch seine Tür verschlossen. Das war noch niemals vorgekommen. Als sie auf mehrmaliges und immer stärkeres Klopfen keine Antwort erhielt, wurde ihr himmelangst. Sie rief die Diener herbei und erfuhr von ihnen, daß der gnädige Herr sich seit gestern gar nicht habe blicken lassen. Man klopfte noch einige Male so stark, daß es laut genug war, um nicht nur einen Schläfer, sondern geradezu einen Ohnmächtigen zu erwecken, und als selbst jetzt keine Antwort wurde, schickte Alma, welche sich vor Angst kaum zu fassen vermochte, in das Dorf nach dem Schmied. Dieser machte auch die vorkommenden Schlosserarbeiten und hatte das nötige Werkzeug, eine Tür zu öffnen.
Das überlaute Klopfen war dem Gendarm aufgefallen. Um zu sehen, was es zu bedeuten habe, kam er herbei. Er sah sämtliche Diener um Alma versammelt, dachte sich, daß dies einen außergewöhnlichen Grund haben müsse und fragte nach demselben. Er erfuhr ihn. Ganz unwillkürlich dachte er an den Schlüssel, welchen Brandt in seiner Tasche gehabt hatte. Er trug denselben noch bei sich und zog ihn hervor.
„Ist es dieser vielleicht?“ fragte er.
Die Zofe Ella kannte die Schlüssel am besten. Sie nahm ihn in die Hand, betrachtete ihn und antwortete:
„Er scheint es wirklich zu sein. Woher haben Sie ihn?“
„Das werden Sie vielleicht erfahren. Bitte, probieren Sie einmal, ob er paßt, ob er schließt.“
Sie steckte ihn an. Es war der richtige Schlüssel. Die Tür ging auf. Aber als die vor derselben Stehenden einen Blick in das Zimmer warfen, ertönte ein allgemeiner Schrei des Entsetzens. Der Raum war mit Blut überschwemmt, welches nun geronnen war, und inmitten dieser fürchterlichen Szene lag mit durchschnittenem Hals der Baron.
Alma stand da, als ob sie ein Gespenst erblicke. Ihre Augen waren starr auf den Toten gerichtet, sie streckte die Hände mit den ausgespreizten zehn Fingern weit von sich, und ihr Haar schien sich emporsträuben zu wollen. Endlich aber löste sich der Bann,
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