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60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Blutleere. Der Gendarm trat zu ihr und sagte:
    „Gnädiges Fräulein, Sie werden diesen Ort gern verlassen wollen; ich muß Sie jedoch vorher um die Beantwortung einiger Fragen ersuchen. Halten Sie Herrn Brandt für schuldig?“
    Ihr Auge suchte den Angeklagten. Liebe, Mitleid und Abscheu kämpften in ihrem Blicke. Sie zögerte zu antworten, und sagte erst nach einer langen Pause:
    „Muß ich denn eine Antwort geben?“
    „Ja, Sie müssen.“
    „Mein Gott, welch eine Qual!“ Sie legte die Hand auf das Herz und fuhr dann, in ein lautes Schluchzen ausbrechend, fort: „Ich kann, ich darf es nicht leugnen; ich muß die Wahrheit sagen: ja, er ist es gewesen.“
    Dabei umfaßte sie den Stamm des Baumes, um nicht umzusinken.
    Gustav hatte sein Auge mit Siegeszuversicht auf sie gerichtet gehabt; jetzt fuhr er zusammen und griff sich mit beiden Händen an die Stirn, als ob ihn dort ein Schlag getroffen habe.
    „Alma!“ rief er, nicht im Ton des Vorwurfs, sondern mit einem Ausdruck, welcher sich gar nicht beschreiben läßt.
    „Bitte, schweigen Sie jetzt!“ gebot ihm der Gendarm. Und sich an den Baron wendend, fuhr er zu diesem fort: „Herr von Helfenstein, ich muß ganz dieselbe Frage auch an Sie richten.“
    „Auch ich bin Zeuge, daß er der Mörder ist“, antwortete der Gefragte in einem Ton, der gar keinen Widerspruch aufkommen ließ.
    „Herr Baron!“ rief Gustav zornig. „Wahren Sie Ihre Zunge. Sie sind ja gar nicht dabei gewesen!“
    „Das wird untersucht werden“, meinte der Gendarm. „Herr von Helfenstein, Sie haben vielleicht die Güte, das gnädige Fräulein nach dem Schloß zu begleiten. Wir werden nachkommen.“
    Der Baron bot Alma den Arm; sie nahm denselben an.
    „Alma! Schwester!“ rief Gustav. „Willst du mich wirklich verlassen, mit diesem Verdacht im Herzen?“
    Sie wendete ihm noch einmal den Blick der schönen Augen zu. Ihr Busen wogte heftig auf und nieder. Sie kämpfte einen schweren Kampf, der ihr Herz, ihr ganzes Innere zerfleischte. Dann aber antwortete sie:
    „Ich darf nicht lügen! Es ist kein Verdacht, es ist die unbestreitbare Gewißheit, daß du der Täter bist. Lebe wohl, auf ewig!“
    Sie ging mit dem Baron. Gustav wußte nicht, was er tun, was er sagen sollte. Das, was er jetzt erlebte, war so ungeheuerlich, daß es ihn fast betäubte. Es brauste ihm in den Ohren, als ob er sich inmitten einer tosenden Brandung befinde, und nur wie im Traum, nur wie aus weiter Ferne vernahm er die Frage des Gendarmen:
    „Aus welchem Gewehr sind die Kugeln gekommen, Herr Brandt?“
    „Aus diesem“, antwortete er, auf seine Büchse deutend.
    „Es ist das Ihrige?“
    „Ja. Ich lag da drinnen zwischen den Bäumen. Die Büchse lehnte an einem Stamm. Ich sah die Baronesse kommen und trat auf den Weg dort; da kam der Hauptmann. Während wir uns unterhielten, fielen zwei Schüsse; sie trafen ihn in die Brust. Er war tot. Ich sprang dahin, wo ich mein Gewehr gelassen hatte. Es lag abgeschossen am Boden, aber niemand war da. Der Mörder war augenblicklich entflohen. Ihm nachzueilen, wäre vergebens gewesen. Ich kehrte darum zu dem Hauptmanne zurück, um zu sehen, ob er wirklich tot sei. Ich hatte das Gewehr noch in der Hand. In diesem Augenblick kam die Baronesse retour. Sie hatte die Schüsse gehört. Sie sah mich mit der Büchse, sie erblickte den Toten; ich sehe ein, daß sie mich für den Mörder halten mußte, zumal ich gestern mit dem Hauptmann einen Wortwechsel hatte. Sie fiel in Ohnmacht.“
    Er hatte diesen Bericht in kurzen, abgerissenen Sätzen gegeben. Sein Gesicht glich dabei demjenigen eines Nachtwandlers, welcher nicht weiß, was er tut und spricht.
    Der Gendarm schüttelte den Kopf und meinte:
    „Ich möchte gern glauben, daß Sie unschuldig sind und daß es in Wirklichkeit so ist, wie Sie sagen. Jedenfalls wird es Ihnen gelingen, dies zu beweisen. Aber Sie sind Jurist; sie kennen die Pflichten meines Amtes. Ich muß Sie bitten, sich als meinen Gefangenen zu betrachten.“
    Alle Anwesenden hatten gewußt, daß es so kommen müsse; aber als das schlimme Wort ausgesprochen war, ging doch ein halblautes Murmeln durch ihre Reihe.
    „Er ist es nicht gewesen“, meinte der eine.
    „Nein, er kann es nicht gewesen sein, man muß ihm Glauben schenken“, sagte der andere.
    „Ich verbürge mich für ihn!“ rief ein dritter. „Man darf, man soll ihn nicht arretieren!“
    Der Gendarm warf einen strengen Blick auf den Sprecher. Er wollte eine Antwort geben, aber Gustav kam ihm

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