60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
Seidelmann hatte vorhin seinen Überzieher mit Hilfe des Dieners wieder angezogen und begab sich dann an diejenige Stelle des Marktes, an welcher Droschken zu halten pflegen. Er ließ sich von einer solchen nach einer jener engen, traurigen Gassen bringen, in welchen das Elend, die Armut und die Not ihre Heimstätten aufgeschlagen haben. Und doch lag diese Gasse, Wasserstraße genannt, weil sie nach dem Fluß führte, nicht etwa am Ende der Stadt, sondern im regsten Innern derselben.
Der Kutscher hielt vor dem bezeichneten Haus, wurde abgelohnt und fuhr zurück. Herr Seidelmann trat ein.
Das Gebäude machte keinen freundlichen Eindruck. Es war schmal, hatte drei Stock und ein Mansardendach. In dem Flur brannte ein Gasflämmchen, welches ein elendes Irrlichtleben fristete, da man den Hahn der Leitung aus Sparsamkeitsrücksichten nur halb geöffnet hatte.
Ebenso war es auf den schmalen Treppen, welche viel eher Stiegen genannt werden sollten. Herr Seidelmann arbeitete sich bis in das dritte Stockwerk empor. Dort stand an einer Tür, auf ein angeklebtes Papier in kalligraphisch schönem Kanzlei geschrieben: ‚Robert Bertram, Privatsekretär‘. Ein elender, abgegriffener Klingelzug hing daneben. Herr Seidelmann klingelte. Im Innern erscholl ein trockener, fürchterlicher Husten; dann wurde die Türe von einem kleinen Mädchen geöffnet. Herr Seidelmann trat ein.
Das, was er sah, bot einen Anblick der bittersten Armut, ja des Elends. Ein Tisch war an die Wand geschoben, weil er nur drei Beine hatte, das vierte war abgebrochen. Zwei Stühle, welche einst gepolstert gewesen waren, eine Waschwanne, einiges Geschirr auf der Ofenbank, ein verblichener Spiegel und in der einen und der anderen Ecke je ein Strohsack – das war die ganze Möblierung des sonst ziemlich großen Zimmers.
Im Ofen brannte kein Feuer; die Fenster waren fingerdick mit Eis belegt, und die Kälte dieser Wohnung erreichte fast diejenige, welche auf der Straße herrschte.
Und doch war alles blank und sauber. Dieses Elend wurde verklärt durch jene Reinlichkeit, welche selbst den ärmlichsten Gegenstand noch besitzenswert erscheinen läßt.
Das Mädchen, welches geöffnet hatte, war, sobald es den Herrn Seidelmann erblickte, in eine Ecke geflohen, in welcher die anderen Kinder auf dem Strohsack saßen, eng aneinander gedrückt, wie Sperlinge des Winters in einer Dachrinne, um sich wenigstens einigermaßen anzuwärmen.
An dem Tisch, auf welchem ein kleines Rüböllämpchen qualmte, saß auf einem der beiden Stühle ein Mann, ein wahres jammervolles Bild des Todes. Er schien außer einer alten Hose gar kein Kleidungsstück zu tragen und war in ein Laken gehüllt, welches einst vielleicht ein Tafeltuch gewesen war. Man sah seine Vorderarme; es waren diejenigen eines Skelettes. Wangen schien er gar nicht zu haben, und die Augen lagen so tief in ihren Höhlen, daß sie kaum noch zu sehen waren.
Als dieser Mann den Herrn erblickte, stieß er einen Ruf aus, welcher fast ein Schreckensschrei genannt werden konnte. Er wollte sich von seinem Platz erheben, fiel aber wieder auf denselben zurück. War das vor Schwäche oder vor Angst? Das ließ sich nicht unterscheiden.
„Guten Abend, lieber Bertram! Guten Abend, ihr lieben Kinderchen!“ grüßte der Eingetretene in salbungsvollem Ton. „Erschreckt nicht! Der Vorsteher der Schwestern- und Brüdergemeinde ‚die Seligkeit‘ ist bei seinem Kommen die aufflammende Leuchte an einem dunklen Ort.“
Ein langandauerndes Husten des Kranken verhinderte den Sprecher, seiner Rede eine größere Länge zu geben. Dann fragte er: „Darf ich erfahren, wie es Ihnen geht, lieber Bertram?“
„Schlecht, wie immer, Herr Seidelmann!“ hustete der Mann.
„Das dürfen Sie nicht sagen! Wen Gott lieb hat, den züchtigt er; er stäupet aber einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt. Wenn Sie wirklich Not leiden, so ist diese Ermahnung zur Buße ein Zeichen, daß der Allbarmherzige Euch vergeben will.“
„Vergeben?“ stieß der Kranke hervor. „Was habe ich gesündigt?“
„Wir sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhmes, den wir haben sollen. Wer seine Sünden nicht erkennt, der ist noch in des Teufels Krallen!“
„Ja, darin stecken wir!“ hustete Bertram. „Herr Seidelmann, diese armen Würmer haben seit gestern früh keinen Bissen in den Mund gebracht; wir anderen aber seit noch längerer Zeit. Geben Sie uns ein Brot, ein einziges trockenes Brot und dann predigen Sie, solang Sie wollen!“
Da streckte der
Weitere Kostenlose Bücher